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Die nächsten Tage waren erfüllt von schwerer Arbeit und dem Warten auf das Averon. Niemand konnte erahnen, wen Tarlen erwählen würde, doch Urongaard predigte nun jeden Morgen, dass sich die Kraft Tarlens Tag um Tag, Stunde um Stunde stärkte.
Das Ereignis rückte näher und die Vorbereitungen waren im vollen Gange. Der Festsaal wurde geschmückt und alle arbeiteten auf Hochtouren. Im Garten wurde eifrig das schönste Obst und Gemüse geerntet, die prächtigsten Schweine geschlachtet und Meister Beobar bereitete seine feinsten Fässer vor.
Schließlich war alles gerichtet für das Ereignis des Jahres und alle gingen in ihren Alltag über, so gut es die Vorfreude und Anspannung zuließ.
Mjor arbeitete mehr als je zuvor in Zanderachs Stube, um den Verlust, den er seinem Meister eingebracht hatte, wieder wettzumachen. Zanderach hätte es nie von ihm verlangt – Er wurde zwar zornig, wenn er etwas falsch machte, doch er war der gütigste und freundlichste Meister, den man sich wünschen konnte. Nein, Mjor bestand darauf alles wieder gut zu machen und in den folgenden Wochen noch mehr zu arbeiten, um seinem Meister zu zeigen, wie ernst es ihm mit seiner Arbeit war. Er liebte das Kartenzeichnen, doch er würde niemals an die Genialität seines Meisters herankommen.
Jeden Abend setzte er sich in das Gasthaus zur kopflosen Gans und hoffte auf ein Treffen mit dem Elfen. Es dürstete ihn nach Wissen um diese Siand’r und er hatte in den Bibliotheken des Ordens vergeblich danach gesucht. Er traf zwar einige bekannte Gesichter, wie den verschrobenen Söldner, der ihm schon beim letzten Mal aufgefallen war, doch der Elf tauchte nicht wieder auf. Nach den Stunden im Gasthaus traf er sich mit Othe und sie trainierten jede Nacht härter, als zuvor. Mjors Bauch wurde flacher und seine Oberarme fanden in den folgenden Tagen zu ihrer einstigen Stärke zurück, die sich die letzten Wochen abgebaut hatte.
Alles ging in geregelten Bahnen, bis zu einem Abend im Gasthaus, der alles auf den Kopf stellte.
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Es war ein kühler Abend – nicht kühler als für diese Jahreszeit üblich, und doch zog ihn die warme Stube an diesem Abend noch stärker an, als in allen Nächten zuvor. Er betrat den Schankraum und orderte wie üblich einen doppelten Krug, doch der Wirt nickte nicht, sondern hob den Arm und winkte ihn zu sich herüber. Als Mjor an die Theke herantrat, beugte sich der Wirt nach Vorne und flüsterte:
„Der Elf, den ihr sucht. Heute ist euer Glückstag. Er ist gerade nach oben gegangen.“ Der Wirt deutete auf die Treppe. „Er kam vor etwa einer Stunde.“ Mjor jubelte innerlich.
„Habt Dank.“ Er schob dem Wirt ein Kupferstück zu. „Ihr seid euch sicher, dass er es ist?“
„Die Langohren sehen alle ähnlich aus, Bruder.“ Erwiderte der Wirt und zwinkerte ihm zu. „Aber nicht gleich. Ich bin mir sicher.“ Mjor nickte dankbar und machte sich auf den Weg nach oben.
Am Ende der Treppe eröffnete sich ein größerer Raum, welcher durch einige lange Tafeln gefüllt war. Es war aufwendig aufgedeckt. Wahrscheinlich war dieser Bereich ursprünglich für Gäste des Hauses vorgesehen. Wenn man am Ende der Treppe geradeaus gehen würde, kam man schließlich zu einem schmalen Gang, welcher zu den Zimmern führte. Der Raum, welcher sich nun zu seiner linken eröffnete war fast gänzlich leer. Einige Halblinge in Kaufmannskleidung unterhielten sich an einem langen Tisch im hinteren Teil. Auf der anderen Seite, direkt hinter der Treppe, saß der Elf und las in einem Buch. Mjor blieb einen Moment auf der obersten Stufe stehen und betrachtete ihn. Er war in seine Lektüre vertieft. Der Elf blätterte oft – Entweder er las unglaublich schnell, oder das Buch war nur zur Hälfte beschrieben. Mjor wusste nicht, wie er an ihn herantreten sollte. Es wusste nicht einmal genau, was er fragen wollte, doch der Elf nahm ihm schließlich die Entscheidung ab:
„Setzt euch doch zu mir.“ Sagte er in den Raum hinein, ohne aufzusehen. Einige der Halblinge wandten sich um, widmeten sich aber sofort wieder ihren Gesprächen, als sie bemerkten, dass sie nicht gemeint waren.
Mjor zögerte, zuckte dann mit den Achseln und setzte sich.
„Ich habe nach euch gesucht.“ Sagte Mjor scheinbar ohne Zusammenhang. Es war zwar ein seltsamer Gesprächsbeginn, doch es war die Wahrheit.
„Ich weiß.“ Der Elf sah immer noch nicht auf. Mjor betrachtete sein Gegenüber genauer: Seine langen, braunen Haare fielen ihm beim Lesen ins Gesicht und er schien sich nicht die Mühe zu machen, sie zurückzubinden. Seine Gesichtszüge waren unnatürlich weich für einen seiner Art und er war nicht sonderlich groß. Jetzt, wo Mjor darüber nachdachte: Er kannte kein einziges Langohr, welches so klein war, wie dieses hier.
„Ihr wisst es? Wie konntet ihr das wissen?“ hakte Mjor ungläubig nach. Der Elf klappte nun sein Buch zusammen und sah ihn ungläubig an:
„Muss ich euch das wirklich noch erklären?“
„Ihr wollt mir erzählen, ihr habt gespürt, dass ich nach euch suche? Na, das könnte doch jeder einfach behaupten.“
„Symaeron.“ Der Elf streckte ihm die Hand entgegen. Mjor brauchte einen Augenblick, bis er verstand, dass er sich offensichtlich gerade vorgestellt hatte. Er schüttelte gedankenverloren den Kopf und erwiderte den Handschlag:
„Wie unhöflich von mir… Mjor.“ Er nickte.
„Unhöflich? Wieso unhöflich. Ich erinnere mich nicht, euch nach eurem Namen gefragt zu haben.“ Gab Symaeron zurück. Mjor runzelte die Stirn. Er entschied sich, es zu ignorieren.
„Äh… Wie auch immer. Ihr habt mich neugierig gemacht und seid dann gegangen.“ Der Elf lächelte versonnen. Es war, als würde er zurückdenken und in der Erinnerung schwelgen:
„Ja… In der Tat. Es ist ein beliebter Trick.“
„Was für ein Trick?“
„Von Schaustellern.“ Gab der Elf zurück. „Lass das Publikum immer mit dem Gefühl zurück, mehr zu wollen.“
„Ach, ihr seid Schausteller?“ schlussfolgerte Mjor neugierig.
„Nein… wieso?“ Dieses Mal war es der Elf, der die Stirn runzelte und Mjor schloss sich ihm an. Er musste unvermittelt schmunzeln. Er wusste nicht genau wieso, doch die verquere Art des Elfen gefiel ihm irgendwie.
„Ich muss euch etwas fragen. Etwas zu dieser Aura, welche ihr bei unserem letzten Gespräch erwähntet.“ Begann Mjor. Er war sich unsicher, wie er genau beginnen sollte: Er hätte dem Elfen gerne die gesamte Geschichte erzählt – Alles, von seiner Begegnung in der Gasse bis hin zu dem seltsamen Gefühl, diese martialische Szene mit einer Farbe beschreiben zu müssen.
„Ja, die Siand’r – Sie hat euer Interesse geweckt. Ihr seid wahrhaftig darüber gestolpert.“ Ein Lächeln umspielte Symaerons Lippen. „Aber wie könntet ihr auch nicht, wo sie doch in Allem steckt.“
„Erzählt mir mehr davon.“ Mjor beugte sich leicht nach Vorne und wartete gespannt darauf, mehr zu erfahren. Symaeron lehnte sich indessen in seinem Stuhl zurück und schien ihn zunächst aufrichtig interessiert zu mustern. Es war, als würde er in ihm lesen, als der Elf beide Handflächen aufeinanderlegte und den Kopf leicht schräg stellte. Mjor schluckte. Er schien direkt durch ihn hindurch zu blicken. Ein Schauer lief ihm über den Rücken.
Als sich Symaerons Blick schließlich löste und der Elf blinzelte, war es, als fiel alle Spannung von Mjor ab.
„Wo soll ich beginnen…“ Seine blauen Augen blitzten schwärmerisch. „Die Siand’r erfüllt uns. Denen, die wissen, zeigt sie, wer wir wirklich sind. Sie ist wunderschön und liegt in Allem, was um uns herum existiert. In allem, was war und was ist und auch in dem, was einmal sein wird.“
„Seid ihr wissend?“ setzte Mjor nach, doch zu seiner Enttäuschung schüttelte Symaeron rasch den Kopf:
„Nein. Ich zähle nicht zu denen, die wissen. Ich vermag nicht alle Farben zu deuten. Dies ist eine Kunst, denen manche ihr gesamtes Leben widmen. Ich bin noch jung und habe noch viel zu lernen.“ Mjor stutzte. Der Elf wirkte auf ihn nicht wirklich jung. Er wirkte wesentlich älter als Syandrill. Doch eigentlich wusste Mjor nicht viel über die Elfen. Es war seltsam. Man lebte mit ihnen Seite an Seite und doch kannte man sie nicht wirklich.
„Wieso interessiert ihr euch derart für die Siand’r, Freund?“ fuhr der Elf indessen fort. Mjor zuckte mit den Achseln.
„Ich weiß nicht.“ Antwortete er aufrichtig. „Es ist…“ Er zögerte, dem Elfen alles zu erzählen. Plötzlich weiteten sich jedoch Symaerons Augen:
„Ihr habt es gespürt.“ Hauchte er fast schon ehrfürchtig. „Es muss eine außergewöhnliche Situation gewesen sein. Etwas von Bedeutung.“ Mjor wusste nicht, wieso er sich dem Elf öffnen wollte, doch er nickte:
„Es war… ich beobachtete etwas und…“ Er zögerte immer noch. „Ich spürte eine -“ Symaeron hing nun förmlich an seinen Lippen, als wäre Mjor ein Geschichtenerzähler, welcher die Worte meisterhaft schmiedete und sein Publikum zu verzaubern wusste. „Blau.“ Mjor erwartete schon, dass Symaeron laut losprustete oder ihn wie einen Verrückten anstarrte, so wie Othe es im ersten Augenblick getan hatte. Nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil – Der Elf grübelte. Er schien nicht so ganz zu wissen, was er von der Sache halten sollte.
„Blau.“ Wiederholte er versonnen und Mjor nickte. Er stand zu seiner Aussage.
„War das… Besagte etwas Bedrohliches?“ hakte der Elf nach.
„Es war düster und grausam.“ Bestätigte Mjor. „Ich… ich muss ehrlich sein. Ich hätte erwartet, dass…“ Er wusste nicht genau, welche Worte er wählen sollte, um das auszudrücken, was er im Inneren so klar und deutlich vor sich sah. Es war das Gefühl, welches einen überkam, wenn man eine neue Sprache lernte und etwas sagen wollte, doch der Wortschatz, der einem zur Verfügung stand, war begrenzt.
„Ihr hattet erwartet bei etwas Düsterem schwarz zu fühlen.“ Riet Symaeron. Mjor runzelte die Stirn.
„Schwarz zu fühlen?“ hakte er nach, lenkte jedoch rasch ein: „Ich… ja. Ich denke, das ist es, was ich sagen wollte – mehr oder weniger.“ Symaeron nickte nun scheinbar zufrieden.
„Ich verstehe.“ Stellte er mit der akademischen Überzeugung eines Heilers fest, der eine Diagnose stellte. „Ihr fühlt die Siand’r, doch ihr könnte nichts damit anfangen.“
„Könnt ihr mir nicht erklären, warum ich -“ setzte Mjor fast schon verzweifelt an, doch Symaeron schüttelte zum zweiten Mal den Kopf:
„Es ist nicht so einfach, wie ihr denkt, Freund. Die Siand’r ist komplex. Durch sie offenbart sich uns die Welt in Farben. Es ist ein chromatisches Zusammenspiel, das uns das Wesen der Dinge verrät. Hier in eben diesem Gasthaus spüre ich unzählige Eindrücke zugleich – Ich werde förmlich überwältigt. Ein Regenbogen aus Grüntönen, blassblauem Schimmer und gelblichen Zügen aus dieser Ecke -“ Er deutete mit gespreizten Fingern wage auf die Halblinge hinter sich. „Ein heller Schimmer des Unbekannten breitet sich aus und über allem…“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause und deutete auf Mjors Brust. „Erstrahlt eure Siand’r wie eine hellleuchtende Fackel.“
„Meine Siand’r?“ rief Mjor erstaunt aus und schüttelte den Kopf: „Was soll mit mir sein? Ihr seid doch von Sinnen.“ Er fluchte innerlich. Er hatte sich von einem Verrückten verzaubern lassen – hatte sich blenden lassen und war auf dunklen Pfaden gewandelt, während er in der Mediation den Frieden hätte finden sollen. So würde er niemals den Averon erlangen. Symaeron runzelte die Stirn und wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment durchbrach eine harsche Stimme alle Gespräche in dem großen Schankraum:
„Was bei den Göttern denkt ihr, dass ihr hier tut?“ hallte die kernige Stimme des Schankwirts zu ihnen herauf. Er schien auf der Treppe zu stehen. Mjor fuhr herum. Was war hier los?
„Lasst mich zufrieden.“ Brummte eine tiefe, ihm fremde Männerstimme. Jemand stapfte schweren Schrittes die Treppe hinab, doch im nächsten Moment verstummten sie und wichen dem konfusen Knallen und Poltern eines Handgemenges.
„Bleibt stehen.“ Ächzte der Wirt unter großer körperlicher Anstrengung. Mjor sprang nun gleichzeitig mit Symaeron auf. Der Stuhl des Elfen scharrte nach hinten, während Mjor den seinen achtlos umwarf. Plötzlich war er in Alarmbereitschaft.
„Tut nichts, was ihr später bereuen könntet.“ Knurrte der Unbekannte plötzlich vorsichtig. Seine Stimme war nah – direkt auf einer der obersten Treppenstufen.
Im nächsten Moment tauchte ein Mann auf, der rückwärts die Stufen hinaufging. Seine Schritte waren bedacht und kontrolliert, seine Handflächen verteidigend nach vorne gestreckt. Es war der Söldner, der ihm schon öfter aufgefallen war. Mjor runzelte die Stirn und stieß hervor:
„Was geht hier vor sich?“ Im nächsten Moment klärte sich von selbst, warum der Mann so vorsichtig rückwärtsgegangen war: Kurz vor seinen Handflächen tauchte nun die lange Klinge eines Dolches auf, der vom Wirt geführt wurde. Er trieb den Mann förmlich vor sich her, während die Halblinge in der Ecke des Raumes aufgeregt tuschelten.
Auf der letzten Stufe angekommen, stolperte der Söldner plötzlich und landete auf dem Rücken, direkt neben Mjor und Symaerons Tisch.
„Ich wusste doch, dass mit euch etwas nicht stimmt!“ fauchte der Wirt nun. Der Söldner krabbelte auf allen Vieren nach hinten, während er die Spitze des Dolches nicht einen Moment aus den Augen ließ. „Ich dachte mir, dass ihr vielleicht Ruhe gebt, aber nun lauscht ihr so offensichtlich!“ Der Wirt schien über alle Maßen aufgebracht zu sein. Er fuchtelte unkontrolliert mit der Waffe und durchbohrte den Söldner mit zornigen Blicken. Es war eine recht harsche Reaktion auf jemanden, der ihrem Gespräch gelauscht hatte. Mjor schluckte. Er musste einschreiten, bevor der Mann die Kontrolle verlor und noch jemand Unschuldiges zu Schaden kam! Er trat einen Schritt an die beiden heran und hob verteidigend die Arme:
„Mein Herr… es ist doch nicht so tragisch, wenn dieser Mann -“ Weiter kam er nicht. Die Spitze des Dolches fuhr schwungvoll in seine Richtung. Als die glattpolierte Klinge direkt auf seine Kehle zeigte, verstummte Mjor mitten im Satz.
„Schweig, kleiner Mann!“ zischte der Wirt. „Das geht dich nichts an.“
Mjors Blick schnellte plötzlich panisch zu dem Söldner auf dem Boden. Der Wirt hatte vollkommen den Verstand verloren! Irgendetwas änderte sich in der Art, wie der Söldner ihn ansah. Es war, als hätte der Mann ihn schon tausendmal beobachtet und nun, plötzlich, hätte sich sein Blick verändert.
„Haltet euch da raus.“ Sagte der Söldner seelenruhig und schüttelte langsam den Kopf. Er sah besorgt aus, doch nicht panisch. Irgendwie schien er sich der Hoffnungslosigkeit seiner Situation nicht ganz bewusst zu sein.
„Was denkt ihr, was ihr hier macht?“ Rief plötzlich eine neue Stimme. Sie war schrill und kam vom Tisch der Halblinge. Einer von ihnen war aufgesprungen und kam nun in ausladenden Schritten auf sie zu. Alle Köpfe fuhren im Einklang zu ihm herum. Er deutete mit von zahlreichen Ringen überladenem Zeigefinger auf den Wirt zu und wetterte: „Seid ihr von Sinnen, Mann?“ Sein Goldschmuck klapperte, während er in die Reichweite des Dolches trat und seine Robe zurückschlug. Der Mann war absolut furchtlos – oder wahnsinnig! „Was denkt ihr, was wir jetzt tun sollen?“ fuhr der Halbling indessen fort. Der Wirt machte keine Anstalten, ihn anzugreifen. Der Dolch senkte sich ein wenig. „Ihr habt uns in eine verdammte Zwickmühle manövriert! Verdammter Idiot!“ Er schäumte vor Wut und sein Kopf wurde hochrot, doch im nächsten Moment zog er seelenruhig einen Dolch unter seinem Händlergewand hervor, als gäbe es nichts Natürlicheres. Er bedeutete dem Söldner aufzustehen, während seine grünen Knopfaugen bedrohlich funkelten, doch dieser zögerte. Symaeron und Mjor rührten sich nicht. Mjor hatte keine Waffe bei sich und der Elf sah ebenfalls nicht wie jemand aus, der überall ein Schwert mit sich führte.
Der Wirt brach nun seine Starre und knurrte missmutig. Der Halbling fuhr zu ihm herum und reckte das Kinn in die Höhe. Sie tauschten einen Blick aus, während der Wirt offensichtlich damit haderte, zu sprechen. Dann entschied er sich:
„Ich rieche verdammte Hafensicherheit auf zehn Meilen!“ versuchte er sich zu verteidigen.
„Ist mir scheißegal, was ihr zu riechen glaubt!“ fuhr ihn der Halbling an. „Ihr habt uns ein gewaltiges Problem eingebrockt!“ Und jetzt schmeißt die übrige Kundschaft unten raus und sperrt ab!“ Der Wirt wollte scheinbar erneut etwas erwidern, doch ein giftiger Blick des Halblings ließ ihn zusammenzucken. Er eilte die Stufen hinab. Der Söldner sprang nun auf, doch der Halbling war schneller. Er sprang zur Seite und versperrte den Weg zur Treppe.
„Nicht so schnell!“
In diesem Moment flog irgendwo im hinteren Teil des Gebäudes eine Tür auf und knallte mit ohrenbetäubendem Lärm gegen die Wand. Jeder einzelne im Raum zuckte zusammen, nur der Halbling nicht. Sein Blick trübte sich und ein Schatten legte sich über sein Gesicht, während er den Kopf langsam sinken ließ.
Schwere Schritte hallten den Gang hinab.
Obwohl noch niemand zu sehen war, fuhr Symaeron herum und keuchte entsetzt. Er flüsterte ein Wort, mehr zu sich selbst, als zu irgendjemandem sonst, doch Mjor stand direkt neben ihm. Er konnte es klar und deutlich vernehmen:
„Aschgrau.“ Es klang, wie ein düsteres Omen. Einen Augenblick später tauchte eine Gestalt in dem Gang zu den Zimmern auf und blieb auf der Höhe des Händlertisches stehen. Sie betrachtete den auf dem Boden liegenden Söldner und schwieg. Jeder schwieg.
Mjor konnte den Blick nicht von dem Mann abwenden. Er wusste nicht, wieso, doch ein Schauer lief ihm plötzlich am Rücken hinab. Das kalte Gefühl einer Farbe drängte sich in seinen Verstand. Er schluckte und versuchte es widerstrebend abzuschütteln, doch durch seine geschlossenen Lider konnte er sie fast schon sehen. ‚Schluss mit dieser Spinnerei.‘ rügte er sich und warf dann einen erneuten Blick auf den Fremden. Nun musste er fast schon über sich schmunzeln. Natürlich dachte er an blau.
Der Mann war ja auch in eine dunkelblaue Robe gehüllt und sein Gesicht lag im Schatten einer ebenso blauen Kapuze. Die Roben waren edel und mit aufwendigen Goldmustern bestickt. Zahlreiche Ringe prangten an seinen spindeldürren Fingern, welche bis zu den Handflächen unter den langen Ärmeln hervorschauten. Ohne, dass jemand etwas sagte, standen die Halblinge nun allesamt auf, vermieden Blickkontakt mit dem Mann und machten sich gleich einer schweigenden Prozession auf den Weg durch den Raum. Sie traten ruhig an dem bewaffneten Halbling vorbei und verschwanden.
Niemand widersprach.
Mjor wollte etwas sagen – irgendetwas, um einen Funken Klarheit über diese verwirrende Situation zu erlangen – doch es war, als hätte der Fremde es gespürt. Sein Kopf sprang in einer unnatürlich hektischen Bewegung zu ihm herum. Mjor hielt mit offenem Mund inne.
„Ihr.“ Es war die Stimme einer Frau, die die Stille durchbrach. Die letzten Zweifel, die im Hintergrund seiner Gedanken die Gestalt mit jener in der Gasse verbunden hatten, zerfielen nun zu Staub, während der Söldner, Symaeron und er erstaunt die Augen weiteten.
Die Frau hob die Hände und streifte die Kapuze ab.
Es war eine Elfe. Sie war wunderschön und verzauberte mit ihrem schmalen, liebreizenden Gesicht, ihren langen, nussbraunen Haaren und den stechend grünen Augen. Sie musterte Mjor durchdringend und ein Gefühl des Unbehagens stieg in ihm auf. Irgendetwas in ihm sträubte sich gegen diese Frau. Etwas in seinem Inneren zerrte an ihm und schien ihm etwas mitteilen zu wollen.
Symaeron keuchte erneut und Mjor fuhr zu ihm herum. Der Elf taumelte zurück und Panik lag in seinen Augen:
„Ashir! Zar A’shtir!“ stieß er hervor, während er sich gegen die Wand hinter sich presste. Sein Gesicht wurde kreidebleich.
Die Fremde lachte. Der Klang ihres Gelächters hallte unnatürlich durch die Stube und schien sich mit jedem Mal mehr zu verzerren, wenn sie auf eine Wand traf und reflektiert wurde. Der Söldner rappelte sich auf und sprang neben Mjor, während der Halbling immer noch den Treppenaufgang bewachte. Sein Blick blieb eisern auf die Frau gerichtet. Angst lag in seinem Blick. Das Lachen der Frau verebbte nun und sie sprach mit kühler Stimme, welche Respekt forderte:
„Was für ein Trio. Hier kommt Alles zusammen.“ Symaeron schien derweil mit sich zu ringen. Er öffnete den Mund, doch es war, als müsste er sich anstrengen, um zu sprechen. Er presste stockend hervor:
„Ihr verdunkelt die Welt! Ihr mischt, was nicht gemischt werden darf. Ihr gehört nicht hierher.“ Die Fremde lachte erneut, hob scheinbar bedeutungslos die Hand und richtete sie auf Symaeron.
„Ihr langweilt mich.“ Stieß sie hervor. Im nächsten Moment machte Mjors Herz einen gewaltigen Satz. Ein blauer Blitz überdeckte das warmgoldene Licht der Taverne und Symaerons Todesschrei ließ Mjor erzittern. Er fuhr herum, die Augen vor Entsetzen geweitet. Der Elf sank wie in Zeitlupe zu Boden, während seine gerade noch himmelblauen Augen zu verblassen begannen. Der Söldner neben Mjor hatte aufgeschrien, doch er rührte sich nicht. Er schluckte, während er hektisch zu dem Halbling sah, der seinen Griff um den Dolch noch festigte. Die Knöchel des Händlers färbten sich weiß, während er scheinbar so fest zudrückte, dass alles Blut aus ihnen wich.
Mjors Blick schnellte wieder zu der Frau und ihm wurde in diesem Moment klar, was schon vom ersten Moment an in ihm durchzubrechen versuchte. Diese Frau war nicht, was sie schien. Es war nicht einmal eine Frau.
„Dämon.“ Stellte er flüsternd in den Raum und trat einen Schritt vor, dem dunklen Wesen entgegen. Dieser eine Schritt kostete ihn qualvolle Überwindung. Er hatte nicht geglaubt, sich jemals wieder rühren zu können – so starr vor Angst war er vor einigen Augenblicken noch gewesen. Doch nun – vollkommen unerklärlich – spürte er plötzlich ungeahnte Stärke in sich aufwallen. Es war seine Pflicht, etwas zu unternehmen. Es war das, worauf er immer beharrt hatte: Der Zweck seines Lebens – Seine Bestimmung.
Der Dämon fuhr zu ihm herum und grinste verzerrt. Nun offenbarte sich Mjor die Fratze in all seinen Facetten. Die Elfe war zwar noch die bezaubernde Gestalt von eben, doch Mjor sah durch sie hindurch. Er erkannte das, was in ihr schlummerte. Es erschreckte ihn. Er wusste, was sie war.
Die Frau hob die Hand und richtete sie auf seine Brust. Der Söldner neben ihm keuchte angsterfüllt.
Mjor lächelte, denn er wusste es besser.
Ein blauer Blitz durchzuckte den Raum, doch der Effekt des Zaubers blieb aus. Stille breitete sich aus, während der Dämon zunächst fassungslos auf seine eigene Handfläche starrte und anschließend mit angsterfülltem Blick auf Mjor.
Im nächsten Moment erstrahlte die Welt. Ein gelbgoldener Schein durchflutete das Zimmer und erfüllte Mjor vom Kopf bis zu den Zehenspitzen.
Terenjon schrie und ließ den Dolch zu Boden fallen.
Anders schrie, doch es war kein Schrei der Angst – kein Schrei des Entsetzens.
Das Böse erzitterte.
Das Leben in Symaeron begann zu weichen. Es würde nur noch wenige Augenblicke verharren.
Mjor atmete so tief ein, wie noch nie zuvor. Die Luft füllte seine Lungen und grenzenlose Kraft durchflutete ihn. Er schloss die Augen. Die Gestalten um ihn herum erstrahlten durch seine Augenlider hindurch, wie durch eine Resonanz des Lichtes vor dem Hintergrund des Tavernenzimmers. Das Böse rührte sich nicht. Es war alles verschwommen – wie in einem Traum. Er handelte wie von selbst. Es gab nur eine mögliche Wahl, was zu tun war.
Er breitete die Hände zur Seite aus. Licht durchflutete den Raum zwischen seinen Fingerspitzen und der Dämon schrie vor Schmerz. Mjor öffnete die Lider. Die Illusion zerbarst vor seinen Augen und das Wesen, welches verborgen war, explodierte in einem feurigen Inferno. Die Flammen züngelten am Holz der Dielen, doch es nahm keinen Schaden von Tarlens Feuer. Zurück blieben nur einzelne goldene Funken, welche langsam zu Boden schwebten.
Mjor atmete ruhig aus und wandte sich um. Er kniete sich neben den Elfen und tiefe Trauer erfüllte ihn. Er teilte sie, doch es war nicht seine Trauer. Eine Träne rann an seiner Wange hinab, doch es war nicht die seine. Er legte die Hand auf die kalte Brust des Elfen und erneut durchflutete Licht den Raum.
Die grauen Schleier verschwanden in seinen Pupillen und das kräftige Blau kämpfte sich seinen Weg frei. Mjor atmete auf. Fast wäre er zu spät gewesen.
Im nächsten Moment erschauderte er in einem krampfhaften Anfall und stürzte. Seine Beine waren plötzlich zu schwach, ihn weiter zu tragen. Eine helfende Hand war bei ihm – sie stützte seinen Kopf und bewahrte ihn vor dem Sturz.
Dunkelheit breitete sich über ihm aus, doch es war keine schwarze Dunkelheit.
Die Summe aller Farben ist weiß.
Der Gedanke war klar. Er beherrschte ihn und vermischte Mjor selbst mit dem Schatten.