Eden Leseprobe

Eden

-Kapitel 1-

Isaak hob müde den Kopf und öffnete langsam die Augenlider. Ein schöner Sommertag zeichnete sich über ihm ab. Strahlend blauer Himmel soweit das Auge reichte, durchbrochen nur durch einen einzelnen Kondensstreifen des Linienflugzeugs. Der Flieger selbst nur ein grauer Punkt vor der Sonne. Weit entfernt – ruhig – friedlich. Dort wo das Königsblau sanft in das satte Grün der Maisfelder übergeht, ruhen vereinzelt Windräder und zeichnen senkrechte schneeweiße Striche vor den Horizont. Ein Farmer fährt in seinem Traktor quer zu dem Feld und zieht einen vollbeladenen Hänger Richtung Osten. Es war ein schöner Tag. Es war ein Traum.

Er hustete schwach und strich dann sanft über den Himmel. Die glänzende Beschichtung war bereits rissig und würde sich bald ablösen. Die Berührung der rauen Oberfläche tat ihm in der Seele weh. So behutsam wie nur möglich löste er die vier rostigen Nägel von der Decke und knotete sie mit dem Haargummi zu einem festen Bund. Währenddessen fixierte er das nun bereits halb zusammengerollte Poster mit der Rechten. Dann rollte er es langsam und vorsichtig zusammen.

Die idyllische Szene wich der zerklüfteten Decke des alten Farmhauses.

Er strich noch einmal über die graue Rückseite des Bildes, bevor er es zurück in seine Plastikröhre schob.

Er stieg von dem knarzenden Hochbett und bahnte sich einen Weg an den Trümmern vorbei in die Küche.

Dort waren die Fenster nicht vernagelt und sofort stieg die Temperatur um ihn herum um etwa zehn Grad. Er beugte sich über die Spüle, griff sich einen Lumpen und wischte einmal kräftig über die von Dreck verkrustete Scheibe.

Ein schmaler, schmieriger Streif offenbarte ihm die Wirklichkeit.

Was einst das kräftige Farbenspiel eines wunderschönen Sonnenuntergangs gewesen sein musste, war nun die grauenvolle Verheißung eines der neuen Tage.

Irgendwann war für den Menschen die Nacht zum Tag geworden. Breite, dickwulstige Wolkenbahnen schichteten sich vor dem Horizont übereinander. Kräftiges gelbes Licht beleuchtete sie von hinten, was ihnen einen gespenstischen Glanz verlieh. Tiefrote Lichtflecken tauchten immer wieder zwischen den Wolken auf und lösten sich alsbald wieder in Luft auf.

Er packte sofort seinen Rucksack – nach Wasser hatte er gestern Mittag schon vergeblich gesucht – und schob den kläglichen Rest, der einst einmal eine Tür gewesen sein musste nach Außen auf.

Ein Schwall heißer Abendluft schlug ihm entgegen, während er nach draußen trat und sich streckte. Er fuhr sich über die aufgesprungenen Lippen, befeuchtete sie mit einigen Tropfen seines Wasservorrates und pfiff dann durch Daumen und Mittelfinger.

Stille.

Sein Herz begann schneller zu klopfen.

Ein Vogel krächzte verzerrt hinter dem Haus. Es klang unnatürlich. Es war ein Geräusch der Art, das selbst dem gestandensten Mann das Blut in den Adern gefrieren ließ. Isaak fuhr fast schon panisch herum – sein Herzschlag zu einem Trommelwirbel verstärkt. Eine Schindel des halb eingefallenen Daches löste sich und zersplitterte krachend auf dem Boden. Das Farmhaus war in allen vier Himmelsrichtungen umgeben von einer flachen, steinigen Ebene. Es sah so aus, als würden die maroden Stützbalken schon bald die Kraft verlieren, doch diese Nacht hatten sie noch gehalten.  Der Vogel krächzte erneut hinter dem Haus. Dann erhob er sich flatternd und tauchte hinter dem schmalen Giebel auf. ‘Ein Aasfresser!’ schoss es Isaak durch den Kopf. Wie benommen setzte er sich in Bewegung und versuchte der aufsteigenden Panik in sich Herr zu werden.

Den Blick starr auf die Hausecke vor sich gerichtet schob Isaak schlurfend mit den Stiefeln Unrat und Steine zur Seite. Ein Hauch von Verwesung kam ihm entgegen. Die Stelle würde nun bald in sein Blickfeld geraten.

Plötzlich ließ ihn ein kräftiges Bellen herumfahren. Isaak schloss die Augen und seufzte erleichtert. Eine einzelne Träne begann zu Boden zu fallen, doch sie würde ihn vermutlich nie erreichen.

Attar bellte erneut und sprang auf ihn zu. Isaak begrüßte ihn herzlich und schloss ihn in die Arme.

“Gott sei Dank! Jede Nacht erschreckst du mich aufs Neue…” murmelte er und schüttelte gedankenverloren den Kopf. Der Schreck hatte noch nicht vollends von ihm abgelassen – Er saß ihm immer noch tief in den Knochen. Attar war sein ein und Alles – ein reinrassiger Wolfshund mit perfekter genetischer Abstammung. Keine Mutationen. Keine Anzeichen von der Hässlichkeit, die die Welt befallen hatte. Manch einer würde ihn vermutlich ein Abbild Gottes nennen. Er fuhr seinem Gefährten durch das vergilbte Fell, welches durch Jahre der starken Sonneneinstrahlung nahezu weiß geworden war. Vertraute orangerote Pupillen weiteten sich und starrten ihn hoffnungsvoll an.

“Ja… natürlich hab’ ich was für dich.” Er tätschelte ihn und zog eines der Futterpäckchen heraus. Er riss das Siegel auf und breitete das seltsam stinkende Trockenfutter auf dem Boden aus. Attar bellte dankbar und stürzte sich sofort darauf.

Gemeinsam zogen sie los und starteten so in einen Tag wie hundert andere. Sie bahnten sich den Weg durch die trockene Ebene. Sie erklommen eine staubige Böschung. Isaak schlitterte nicht sonderlich elegant die Schuttseite hinab, während Attar einige kräftige Sätze machte und sofort hinter den Trümmern verschwunden war. Sein Bellen hallte durch das schmale Tal, welches die Hügel zu beiden Seiten einrahmten. Isaak lächelte, während er den aufgesprungen Asphalt am Fuß des Hanges vorsichtig betastete. Attar blieb nie lange bei ihm. Er war frei. Alle Lebewesen brauchten Freiheit. Selbst, wenn er jeden Abend aufs Neue hoffnungsvoll beten musste – er konnte ihn nicht zu sich nehmen und einsperren.

Isaak grunzte zufrieden. Der Asphalt war hart. Zwar aufgesprungen und zur Unkenntlichkeit verformt – aber stabil. Isaak erklomm die zackigen Strukturen, die der Teer gebildet hatte und kämpfte sich durch das zerklüftete Feld der einstigen Autobahn.

Einige hundert Meter weiter hielt er inne und lächelte. Ein quadratisches Schild, dessen Farbe an den meisten Stellen bereits abgeblättert war, zeigte immer noch klar mit weißer Schrift auf blauem Untergrund:

‘Höllenplacken’

‘Wie passend…” fuhr es ihm durch den Kopf und er musste über sich selbst lachen.

Er zog einige Stunden weiter durch die Einöde bis er zu einer eingestürzten Brücke kam. Sie hatte vor vielen hundert Jahren einmal über diese Straße geführt, doch die Stützpfeiler hatten nachgegeben und sie war einseitig auf die Fahrbahn gefallen. Ob es die Kriege gewesen waren oder das Klima oder einfach nur die Zeit – Es war eigentlich egal. Er zog sich mühsam nach oben und machte sich schweißüberströmt ein Bild von der Lage. Die Brücke war noch einigermaßen intakt. Er musste kaum klettern, um die andere Seite zu erreichen. So konnte er sich den schmerzhaften Weg den steilen Hang hinauf sparen. Er rief Attar zu sich heran und gemeinsam gingen sie dem immer schwächer werdenden Abendlicht entgegen.

An der Spitze der Fahrbahn öffnete sich schließlich eine weitere Ebene vor ihnen. Am Horizont eine zerfallene Stadt, einige eingestürzte Windräder und unwirtliche Steppe. Eigentlich nichts Ungewöhnliches. Und doch stimmte etwas nicht. Es dauerte etwa fünf Minuten, während Isaak stirnrunzelnd und die Arme in die Hüften gestemmt an der Hügelkuppe stand und die Umgebung musterte. Erst kam er nicht darauf, was ihn an der Szene störte. Doch dann sah er es. Es war direkt vor seinen Augen gewesen – die ganze Zeit: Eines der noch intakten Windräder drehte sich!

Das bedeutete…

Menschen!

Bevor er sich von der Freude übermannen lies, überprüfte er mit wachsamem Blick beide Seiten der Steppe, doch er konnte keine Herden entdecken. Es schien alles sicher zu sein. Dicht gefolgt von Attar lief er schließlich los.

~

Da stand er nun und hatte den Mund vor Erstaunen weit geöffnet. Vor ihm lag eine kleine Hütte mit wehendem Stoffsegel, welches einer beschaulichen Terrasse als Sonnendach diente. Ein Tisch war gedeckt, ein voller Wasserkrug stand auf dem runden Beistelltisch und natürlich brummte das mächtige Windrad, welches direkt neben der rechten Hüttenwand aus dem Boden emporragte. Die gewaltigen Rotorblätter schoben regelmäßige Windstöße zu ihm hinab und obwohl die getragene Luft brennend heiß war, war es doch auf eine perfide Art angenehm.

Isaak schüttelte den Kopf.

Er konnte das alles nicht fassen.

Es war so unwirklich – so… friedlich.

Die Tür öffnete sich schwungvoll und ein hagerer, alter Mann trat heraus:

“Morgen.” Seine Stimme wirkte alt und zersplittert wie ein gesprungenes Glas, doch trotzdem strahlte der Fremde Stärke aus. Er war hager, doch nicht eingefallen, schwach, doch nicht krank, faltig, doch nicht vom Krebs zerfressen. Er war einfach nur ‘gesund’. Isaak nickte zögerlich. Eigentlich hatte er höflich sein wollen, so wie sein Vater es ihm beigebracht hatte, doch seine Manieren waren irgendwo auf der Straße in Vergessenheit geraten.

“Ah… “ sagte der Fremde nur.

“Ja.” antwortete Isaak.

“So.”

Es war wie das erste Erkunden eines dunklen Sees. Man sprang nicht einfach hinein. Man steckte zuerst vorsichtig einen Zeh in das Wasser – testete, probierte. “Mhm.” murmelte nun der Fremde und durchbrach erneut die Stille. Da war ein Wille zum Gespräch. “Schöner Bursche.” Er meinte natürlich Attar.

“Ja. Is’ Attar. Ich bin Isaak.” Der Fremde nickte scheinbar erfreut, machte jedoch keinen Schritt von seiner kleinen Veranda hinab.

“Ja… Ich…” begann er und überlegte scheinbar angestrengt. “Ich nenne mich Hektor. Heute, zumindest.” Isaak nickte und schmunzelte dann:

“Schöner Name. Hast du den irgendwo eingetragen?” Hektor blickte ihm todernst in die Augen. Dann wandte er den Blick ab und sah für einen Moment die Ebene hinab in Richtung der zerfallenen Stadtruine. Er sinnierte einige Sekunden und strich sich über das stoppelige Kinn. Dann wandte er sich erneut an Isaak. Sein Blick war eisern.

Plötzlich lachten beide im Einklang. Attar bellte. Das Geräusch hallte durch die Ebene. Ihr Lachen erstarb. Isaak beugte sich hinab zu seinem Gefährten und beruhigte ihn flüsternd:

“Ruhig mein Junge, ruhig.” Ein hektischer Blick zu dem Fremden. Ein Kopfschütteln seinerseits. Isaak atmete auf.

“Schon seit ungefähr vier Wochen.” sagte der Alte. Isaak war überrascht und lies von Attar ab.

“VIER Wochen?” hauchte er erstaunt. Er traute sich immer noch nicht, laut zu sprechen.

“Nichts.” bestätigte der Alte und deutete auf seine kleine Terrasse. “Willst du dich setzen? Ich habe Wasser.” Isaak nickte. Er nahm seinen Bogen vom Rücken und lehnte ihn an den Zaun. Er war selbstgebaut. An manchen Stellen wies er große Löcher auf, dort wo dem Alten offensichtlich die Nägel gefehlt hatten. Isaak blickte auf und sah dem Mann in die Augen:

“Schöner Zaun. Wird aber niemanden aufhalten.”

“Bin zu alt, eine Festung zu bauen.” gab der Alte nüchtern zurück. Isaak nickte.

“Natürlich.”

Isaak wollte sich schon setzen, als er sah, dass der Alte nur einen einzigen Stuhl besaß. Der Alte wartete höflich, doch Isaak schüttelte nur den Kopf, lies seinen Rucksack fallen und sank neben dem Fenster zu Boden. Die Hauswand knarzte, doch sie stützte ihn angenehm. Isaak seufzte und begann, sich eine Zigarette zu drehen. Hektor setzte sich ächzend und beobachtete Isaak für einen Augenblick.

“Machst du dir keine Sorgen um den Krebs?” Isaak wollte gerade das Paper ablecken, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne und sah den Alten verwundert an. Er grinste. Isaak schmunzelte, nickte dann versonnen und steckte seine Zigarette an. Die rote Glut tauchte auf und verschwand wieder, gleich den bedrohlichen chemischen Flecken am Himmelszelt. Der Alte schenkte sich Wasser in sein Glas. Er machte es nur halbvoll. Dann stellte er den Krug auf den Boden und schob ihn zu ihm herüber. Isaak stutzte. Er war immer noch fast voll.

“Ich hab’ noch viel mehr.” Der Alte nickte ihm aufmunternd zu. Isaak zögerte keinen Augenblick länger. Als er in vollen Zügen trank, brannten seine aufgesprungenen Lippen wie Feuer. Das Wasser war klar. Nicht verseucht.

“Wo hast du es her?” fragte er.

“Ein Teich ein paar Minuten hinter dem Windrad.” Der Alte deutete in besagte Richtung. “Nettes Plätzchen. Wo ist der schöne Bursche?” Der Alte sah sich um, doch Attar war verschwunden. Isaak winkte ab:

“Der taucht wieder auf.” Der Alte nickte. Sie schwiegen eine Weile, während Hektor die Augen schloss und Isaak genüsslich an seiner Zigarette zog. Nach einigen Minuten durchbrach er das Schweigen:

“Hast du einen Ofen?” Der Alte sah auf. Seine Augen blitzten. Unbändiger Hunger spiegelte sich in ihnen wider. “Ich hab’ viel dabei – mehr, als ich essen könnte.”

“Eine Feuerstelle neben dem Haus.” beantwortete Hektor seine Frage. Isaak legte den Stummel seiner Zigarette behutsam auf die Holzdielen, trat die Glut aus, spuckte darauf und schob ihn dann zwischen die Dielen. Anschließend nahm er wortlos seinen Rucksack und ging zu besagter Feuerstelle.

In der nächsten Stunde bereitete er einen Eintopf aus Knollen und einigen verschrumpelten Kartoffeln zu, die er in den letzten Wochen gesammelt hatte. Als Krönung fügte er eine Hand voll Reiskörner hinzu und kochte alles gewissenhaft.

Gemeinsam aßen sie das königliche Mal. Oft hatte man Gemüse oder Reis, doch kein Wasser. Oft fand man eine Quelle, doch nichts zu essen. Und manchmal – einmal in fünf Jahren – geschah es, dass beides aufeinandertraf. Isaak lächelte, während er den Alten beim Essen beobachtete. Die Freude und der Genuss waren ihm direkt anzusehen.

“Kein Gemüse hier draußen?” hakte er nach und leerte schlurfend den Rest seiner Schale. Er war richtig satt, doch im Topf war immer noch mehr. Der Alte lies sich Zeit mit der Antwort, löffelte zunächst seelenruhig weiter, bevor er sich ächzend zurücklehnte und Isaak ansah. Leicht schüttelte er den Kopf und ein schwaches Lächeln zeichnete sich auf seinen aschgrauen Wangen ab.

“Doch, doch.” erwiderte er. “Ich hab’ ein Feld hier draußen, gleich hinter dem Haus. Aber die verkackte Sonne macht mir zu schaffen. Mir fehlt die Energie, um ein Sonnensegel zu bauen. Hab seit vielen Wochen nichts mehr geerntet.”

Isaak hob eine Braue. Er hatte schon ewig niemanden mehr fluchen gehört. Es war erfrischend, wieder unter Menschen zu sein. Nun ja – bei EINEM Menschen.

“Und die Stadt?” Isaak deutete auf die dicht gereihten Häuserruinen, die sich immer noch deutlich vor dem Himmelschaos abzeichneten. Vereinzelt standen sogar noch große Wohnhäuser von etwa zwanzig oder sogar dreißig Stockwerken. Viele Stellen waren bis auf die rostigen Stahlnetze heruntergebrochen, die solche Gebäude trugen, doch man konnte sie immer noch erkennen. Vermutlich war es eine der Bomben gewesen. Hoffentlich keine der üblen Sorte. Er warf einen Blick auf den halbvollen Wasserkrug in der Mitte des Tisches und schluckte. Vermutlich wäre er dann sowieso schon tot. Er kramte hastig seinen Zähler aus der Jackentasche und legte ihn vor sich auf den Tisch – direkt neben sein Wasserglas. Er war still. Kein Klacken.

“Nein.” Isaak fuhr ein wenig erschrocken hoch. Hektor lächelte nun matt und schüttelte schwach den Kopf.

Isaak war so mit sich und seinen Gedanken beschäftigt gewesen, dass er den Alten schon fast vergessen hatte. Er war es einfach zu sehr gewohnt, allein zu sein.

“Woher kannst du dir sicher sein? Hast du auch ein -” Er deutete auf seinen Geigerzähler. Ein Relikt vergangener Tage – doch sein wertvollster Schatz. Nun ja – wohl eher zweit-wertvollster. Hektor schüttelte den Kopf und gluckste.

“Nein, nein. Ich stamme von hier. Meine Familie lebte seit einigen Generationen dort nördlich der Stadt.” Er warf die Hand wage in Richtung der Häuser, um eine ungefähre Richtung anzugeben.

“Wie heißt sie?”

“Keine Ahnung.” Hektor zuckte mit den Achseln. Isaak drehte sich die nächste Zigarette. “Keiner von uns konnte lesen. Es gibt Schilder, doch seit Generationen weiß niemand mehr, was sie sagen.” Isaak nickte, doch das Brummen des weißen Turmes drängte sich wie auf ein Zeichen wieder in den Vordergrund seiner Gedanken. Er runzelte die Stirn.

Hektor lachte.

“Ich weiß, was du jetzt denkst. Es ist ganz simpel. Das wichtige Wissen überlebt. Mein Vater war Elektroniker und sein Vater davor auch. Ich hab’ viel von ihm gelernt. Lesen gehört nicht dazu.”

“Aber wie könnt ihr so etwas antreiben, aber nicht lesen können?”

“Wer kann heutzutage schon noch lesen?” sinnierte der Alte. Isaak lächelte.

“Nein!?” der Ausruf war voller Erstaunen und Unglauben.

“Nicht wahr?” gab Isaak zurück. “Nutzlos wie die Krätze.” Hektor lachte. Isaak fiel mit ein.

Die Stimmung war unbeschwert – ja fast schon ein Fest in diesen Zeiten. Atar kehrte nach einigen Minuten bellend zurück und tollte einen Moment lang auf der Veranda. Isaak stellte ihm eine Schale voll Eintopf auf den Boden. Atar rührte ihn nicht an. Er sprang davon und verschwand hinter dem Haus.

“Er hat seinen eigenen Willen.” stellte der Alte fest. Isaak nickte.

“Ja. Er ist ein Geschenk.” Eine Pause entstand, während Isaak grübelte. Dann durchbrach er die Stille: “Ich könnte bleiben.” Es war ein Gedanke, der ihm sofort gekommen war, als er den Alten im Türrahmen gesehen hatte. Noch vor dem Reflex, den Bogen zu ziehen. Die Instinkte waren noch da. Der Wille, andere Menschen zu töten – sie zu verletzen – war schon lange verloren. Es gab keinen Grund mehr dazu. Nicht für ihn und jeden, dem er je begegnet war. Doch was wusste er schon. Diese Begegnungen konnte er an beiden Händen abzählen – ja fast schon an einer.

Der Alte antwortete nicht. Er lächelte nur.

“Ich werde in die Stadt gehen – Morgen Nacht.” stellte Isaak fest. Er setzte sich wieder auf den Boden und kramte zum dritten Mal seinen Tabaksbeutel heraus. “Ich brauche neues Paper. Vielleicht finde ich etwas Saatgut – ein Sonnensegel. Vielleicht sogar einen zweiten Stuhl.” Der Alte lachte.

“Das wär’ doch was.”

“Gibt’s etwas zu tun, jetzt, wo ich nicht weiterreise?”

“Wenn du Saatgut besorgen willst, sollte das Feld vorbereitet werden. Gepflügt, genässt…” Isaak nickte:

“Mach ich.”

“Vielleicht noch abgedeckt.”

“In Ordnung.” bestätigte er.

“Du bist fleißig.” Der Alte nickte ihm wohlwollend zu. Einen Moment war es still, während der Alte sich einen gehäuften Löffel Eintopf in die Schlüssel klatschte. Er stocherte ein wenig darin herum, dann sah er erneut auf. “Bist du sicher, dass du in die Stadt willst?”

“Ich kenne die Gefahr.” gab Isaak nüchtern zurück. Der Alte seufzte und schüttelte vehement den Kopf.

“Das denke ich nicht. Die Herden hier sind anders. Du wirst sie nicht wiedererkennen.”

“Ich bin vorgewarnt.” bedankte sich Isaak. Dann machte er sich auf, alle Arbeiten zu erledigen, bevor die Sonne wieder aufgehen würde. Er hatte viel vor sich.

~

Am Ende der Nacht war er erschöpft, doch zufrieden. Er hatte seit zwei Jahren niemanden mehr getroffen – seit fast drei keinen Ort mehr zum Verweilen gehabt. Die Arbeit für den Alten war von einer seltsamen inneren Befriedigung, die ihm sonst nichts auf der Welt geben konnte. Er hatte alles geschafft, was er sich vorgenommen hatte. Er hatte das Feld gepflügt, gewässert, es mit getrockneten Farnen abgedeckt – ja, sogar einige Stellen am Zaun repariert. Alles in allem war er zufrieden. Morgen würde er in die Stadt gehen und einige Dinge besorgen. Es konnte schön werden. Es konnte alles perfekt werden. Er legte sich auf seinen Schlafsack und seufzte. Natürlich war er dreckig und zerschlissen, so wie alles, was er besaß, doch er hatte das, was wichtig war.

Nachdem er zur Ruhe gekommen war, zog er das Poster behutsam aus seiner Hülle, breitete es ruhig aus und hämmerte die vier Nägel mit dem Knauf seines Jagdmessers ein paar Zentimeter in die hölzerne Decke. Nun konnte er sich entspannen. Er konzentrierte sich auf die schöne Idylle und betrachtete alle Einzelheiten, so wie schon tausende Male zuvor.

Nur einmal durchbrach die schwache Stimme des Alten aus der anderen Ecke des Raumes seinen Frieden. “Was ist das?” fragte er knapp, doch Isaak antwortete nicht. Er war nicht mehr hier. Der Alte lies es dabei und Stille kehrte ein.

-Kapitel 2-

Kräftiger Wind pfiff durch die schmalen Schlitze in den Holzwänden und kleine Kiesel polterten außen über die Veranda. Vereinzelt stießen rollende Steine gegen die Außenwand und hinterließen bei ihm einen kurzen Schreck – wie von einem schwachen Hammerschlag. Die Fenster waren vernagelt, doch Isaak wusste trotzdem, dass die Dämmerung erneut begonnen hatte. Das grelle Licht des Tages fand immer einen Weg in das Innere. Es zwängte sich durch die schmälsten Schlitze und kroch, begleitet von einem starken Schwall von Hitze in den Raum hinein.

Vor einer Stunde hatte es dann aufgehört. Die Sonnenstrahlen waren nach und nach verblasst und die Temperatur im Inneren der kleinen Hütte deutlich gefallen. Es war düster geworden. Wie er sich hatte sagen lassen, war dies einst die perfekte Vorraussetzung für einen guten Schlaf: die Dunkelheit. Nun hatte es sich umgekehrt.

Isaak spürte wie Energie seinen Körper durchflutete und seine Sinne während der Dämmerung nach und nach erwachten.

Er gähnte ausgiebig und streckte sich.

Er hatte kein Auge zugetan – Natürlich hatte er das nicht. Die verdammten Instinkte überwältigten den Verstand. So war es schon immer gewesen. Vermutlich war es eben dieses Ur-verhalten des Menschen, welches schließlich seinen Untergang bedeutet hatte. Aber wer konnte das jetzt noch sagen. So viele Jahre waren vergangen. Das Wissen verschwand nach und nach. Das Wissen um die kostbaren Technologien, welche die Menschen süchtig gemacht hatten. Süchtig nach Neuem – nach einer weiteren Erleichterung ihres Lebens. Und damit natürlich das Wissen um das, was eigentlich vor über einhundert Jahren geschehen war.

Er zog behutsam seinen Tabaksbeutel aus der Tasche und drehte sich mit ernster Miene eine Zigarette. Im Liegen war das umständlich, doch er brauchte es nun, um sich zu beruhigen. Er war müde und der Sturm vermasselte ihm alle seine Pläne.

“Auch wach, was?” knurrte der Alte plötzlich. Isaak fuhr seelenruhig fort, den Tabak gleichmäßig zu verteilen. Er war nicht überrascht. Er wäre überrascht gewesen, hätte der Alte NICHT geredet. Er überlegte, was er antworten sollte und entschied sich für ein undefinierbares Knurren.

Ein paar Minuten blieb es still.

Das Rauschen und Poltern des Sturmes war das einzige, was noch zu hören war. Isaak lag ausgestreckt auf seinem Schlafsack und betrachtete die friedliche Szene. Ab und an blies er einen Rauchring nach oben, welcher wie in Zeitlupe anschwoll und dann auf der Oberfläche des Posters zu allen Seiten zerstob.

“Auch nicht geschlafen?” durchbrach er schließlich die Stille.

Stille war eigentlich nie ein Problem für ihn gewesen. Doch irgendwie machte sie ihn gerade nervös – ließ ihn fahrig werden. Seine Gegenfrage schwebte einen Moment unbeantwortet durch den Raum, doch dann räusperte sich der Alte.

“Natürlich nicht.” Seine Stimme klang längst nicht mehr so brüchig wie gestern. Das Gemüse hatte ihm offensichtlich gutgetan. Isaak musste unwillkürlich lächeln.

“Bescheidene Natur des Menschen.”

“Warum sagst du es nicht einfach?” Die Stimme des Alten klang verwundert. “Beschissen.” stellte er nüchtern in den Raum, wie als würde er auf einen Tisch deuten und sagen: ‘Seht her, das ist ein Tisch’. Isaak atmete stoßartig aus und zögerte zunächst. Doch dann kam es ihm. Der Alte war der einzige verdammte Mensch, dem er seit langem begegnet war. Warum war er immer noch verschlossen? Scheißegal, wer wie viel über ihn wusste. Weitererzählen konnte er es sowieso nicht.

Isaak musste über seinen eigenen Gedanken schmunzeln.

“Mein Vater.” erklärte er nüchtern. “Das kommt davon, wenn man von einem Priester großgezogen wird.”

“Ist verflucht nochmal nicht wahr!” stieß der Alte hervor.

“Sehr christlich.” Der Alte grinste. Isaak sah zwar nicht zu ihm herüber, doch er spürte es förmlich, wie das breite grinsen sich über seine beiden Wangen zog.

“Zum Teufel mit dem christlichen!” murmelte der Alte bissig.

“Alle spotten sie, bis die Dämonen an ihre Tür klopfen.”

“Wollte dich nicht beleidigen.” Aufrichtige Reue schwang in der Stimme des Alten mit. Isaak lies die Zigarette sinken und seufzte:

“Ach.” Erneut wurde es still und schließlich war es der Alte, der das Schweigen nicht mehr aushielt.

“Mein Großvater hat gesagt, es sind Mutationen. Radioaktivität und so. Keine Dämonen.”

“Wo ist der Unterschied?”

“Stimmt.” räumte der Alte ein. Das Gespräch nahm eine düstere Wendung. Warum taten sie sich das an. Das Leben war sowieso schon beschissen genug. Isaak wechselte rasch das Thema:

“Was macht man hier so, wenn man Spaß haben will?”

Der Alte antwortete nicht.

Den Geräuschen nach zu urteilen richtete er sich von seinem Bett auf und ging in die Ecke direkt gegenüber von Isaak. Er kramte irgendwo in einer Schublade, dann klickte etwas und es rauschte. Das Geräusch ging beinahe im Wind des Sturmes unter, doch das Knistern wurde gelegentlich durch ein kräftiges Knacken verstärkt. Isaak öffnete die Augen und setzte sich auf.

Der Alte hantierte an irgendeiner Art Gerät, legte eine schwarze Scheibe darauf und drehte scheinbar wahllos an einigen Knöpfen. Genau konnte Isaak es nicht erkennen, denn der Alte verdeckte mit seinem Rücken das meiste, doch plötzlich begann die Musik zu spielen. Isaak war starr vor Erstaunen. Er hatte schon seit Ewigkeiten keine Musik mehr gehört. Die Erinnerung kam wieder. Die Klänge weckten etwas in ihm. Mit jeder Sekunde – mit jedem Ton kam ein Stück des Puzzles hinzu und führte ihn in seine Vergangenheit. Das Lied begann mit einer langsamen Welle einer Gitarre. Die Musik blieb dezent – verspielt. Eine zweite Gitarre gesellte sich hinzu – Nur höher. Sie übernahm die Führung. Sie schwoll an, verebbte und begann erneut. Isaak versank in den Klängen. Das Knistern des Geräts schwand nach und nach und verlor an Bedeutung. Dann – plötzlich – kam der Ausbruch. Das Schlagzeug. Die Gitarren. Der Mann sang seine ersten kraftvollen Zeilen:

“So close, no matter how far.

Couldn’t be much more from the heart

forever trust in who we are

and nothing else matters.”

Isaak kannte das Lied, dank seiner Mutter. Er musste an früher denken. Er verstand den Text, dank seines Vaters. Er als trotziges Kind inmitten einer kleinen, verschworenen Gemeinde. Verschrobene Erwachsene, geführt vom Glauben. Sie lauschten seinem Vater wann immer sie Rat suchten. Sie hatten mit der Welt fast schon abgeschlossen, doch der Glaube hielt ihren Verstand. Sie zogen durch das Land auf der Suche nach einem Ort, an dem die Welt noch nicht verkommen war. Und was war geschehen?

Er war übrig.

Er war immer noch auf der Suche. Sollte dieses Lied den Anfang UND das Ende der Reise markieren? War er so abergläubisch? Im Moment dieser Musik war er es vielleicht.

Er saß die gesamte Zeit still da und horchte. Erinnerte sich. Er genoss den Moment in vollen Zügen. Einen Moment, der so in den letzten fünfzehn Jahren nur einmal vorgekommen war.

Der Alte zerstörte den Zauber nicht. Wer weiß, vielleicht hätte er ihm etwas angetan, wenn er es gewagt hätte, ihn nun zu stören. Er mochte den Alten, doch es gab Dinge, die wichtiger waren. Isaak war sich sicher. Der Alte spürte es genau.

Als das Lied verklungen war, herrschte einen Augenblick lang andächtige Stille.

“Du kennst es?” Isaak nickte immer noch benommen von der Erfahrung. “Es bedeutet dir etwas?” Er nickte erneut. “Willst du es noch einmal hören?”

“Ja.” Der Alte lächelte versonnen, drehte sich um und hantierte erneut an seinem Gerät. Es knackte und knisterte. Dann begann der Song von Neuem. Sie hörten ihn noch einmal – und dann erneut. Isaak konnte nicht genug davon bekommen. Beim dritten Mal wanderte er zu dem kleinen, runden Tisch in der Mitte des Raumes. Beim vierten Mal unterhielten sie sich gedämpft. Lange nachdem er aufgehört hatte, die Wiederholungen zu zählen, zog der Alte einen Satz Karten aus einer Schublade.

Sie spielten die ganze Nacht.

Am nächsten Tag schlief Isaak felsenfest.

Am darauffolgenden Tag spielten sie erneut. Dieses mal hörten sie die gesamte Platte durch. Der Alte zeigte ihm noch andere Songs – andere Künstler. Keines der Lieder gefiel ihm so, wie der erste. Der Sturm begann langsam aber sicher abzuflachen.

Abends war wieder die gewohnte Stille in die Welt eingekehrt. Der Sturm war weitergezogen. Isaak packte sein Poster voller Elan zusammen, stellte die Rolle in sein Eck in der Hütte und riss die Tür auf. Es war ein kühler Tag. Heute konnte er endlich in die Stadt. Dieses mal musste er gar nicht erst pfeifen, denn Atar kam sofort stürmisch auf ihn zugerannt. Sein Fell war zerzaust und von Sand und Dreck verklebt. Das kräftige Leuchten seiner Augen war jedoch ungetrübt. Isaak fand sogar, dass sie heller strahlten, als je zuvor.

Er schulterte seinen Bogen, verabschiedete sich von Hektor und machte sich schließlich auf den Weg. Sie waren wieder zu Zweit. Zwei gegen den Rest der Welt.

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