Die Farben der Welt Kapitel 1

Die Farben der Welt

Teil 1

Königsblau

 

1

Der Elf hob seinen Kopf und ließ den Blick langsam gen Himmel schweifen. Das schwache Licht des Mondes fiel dabei auf eine Hälfte seines Gesichts und verlieh seinen ohnehin kantigen Gesichtszügen einen noch mystischeren Ausdruck. Würde er es nicht besser wissen, hätte Mjor ihn fast schon für einen würdevollen Magister gehalten. Doch er wusste es eben besser.

Mjor grinste verstohlen in sich hinein. Dieses verdammte Langohr wollte ihn wieder einmal übers Ohr hauen. Aber nicht mit ihm. Nicht heute.

“Ihr wollt noch mehr herausschlagen?” fragte er bewusst nüchtern, um seinen aufkochenden Ärger zu verbergen und schlug sein langes Gewand vor der Brust zusammen. Mit der flachen Hand hielt er dabei die beiden Stoffbahnen vor der leichten Wölbung seines Bauches zusammen. Er seufzte leise. Er war fett geworden – hatte nachgelassen.

Der Elf stand derweil immer noch steif hinter seinem Stand und zeigte keinerlei Reaktion. Er blieb unnahbar. Er spielte die Karte des mysteriösen, weltfremden Wesens aus. Mjor hätte ihm am liebsten dafür ins Gesicht geschlagen.

“Ich weiß, ihr könnt unsereins nicht leiden, Syandrill, doch ich werde nicht ohne mein Papier gehen, das wisst ihr.” Er hatte den Elfen nicht provozieren wollen, doch die Art der Langohren brachte ihn immer wieder zur Weißglut. Warum konnten sie nicht einfach kommunizieren wie normale Wesen!

Syandrill löste den Blick von den vereinzelten Wolkenfetzen und fixierte Mjor mit eisernem Blick. Natürlich hatte er DAS jetzt gehört!

Obwohl seine Artgenossen stets Würde ausstrahlten, wirkte der Elf in diesem Moment eher wie ein Raubtier, welches bereit war, sein Gegenüber jeden Moment zu verschlingen. Seine traditionellen Kettengewänder klimperten leise, während er die spindeldürren Finger breit gefächert auf dem Ladentisch abstützte:

“Was ihr mir da unterstellen wollt ist unerhört, junger Herr Zwerg. Hat euer Meister euch keine Manieren beigebracht? Oder habt ihr für euren Ungehorsam nur einmal mehr einen zu heftigen Schlag empfangen, der nun eure Sinne trübt?”

Mjor schnaubte, während er sich selbst verfluchte. Er hatte sich wieder einmal von dem Fuchs provozieren lassen und nun spielte dieser den Beleidigten, um den Preis zu erhöhen. Der Elf wusste genau, wie man die Kundschaft anpackte. Doch welche Wahl blieb ihm. Er fuhr sich nachdenklich durch den zu einem kurzen, schwarzen Strang geflochtenen Bart und ging in Gedanken seine Optionen durch. Er konnte natürlich mit leeren Händen zu seinem Meister zurückkehren, doch dann würde er keinen Lohn erhalten und sie konnten am nächsten Arbeitstag die Aufträge nicht erfüllen. Wer kaufte schon Material bei einem Kartographen, der nicht zuverlässig war. In einer großen Stadt wie dieser sprachen sich derartige Dinge schnell herum. Doch was interessierte es ihn. Er jedoch musste sich um andere Dinge kümmern, als die Reputation des Kartographen. Es ging hier schließlich um sein Geld.

Natürlich konnte er auch in den Osthafen gehen, um dort das Papier zu kaufen, doch zu so später Stunde…

Syandrill ließ ihm keine Zeit den Gedanken zu Ende zu denken:

“Ihr denkt doch nicht ernsthaft darüber nach, um diese Zeit noch zum Osthafen zu gehen? Ihr? Ohne Eskorte?” Der Elf lächelte. Für einen Außenstehenden mochte es so wirken, als hätte er gerade einen wohlgemeinten Witz gerissen, doch Mjor wusste, was es war. Es war eine direkte Beleidigung seiner Kraft – Der Kraft aller Grimgar!

“Und wenn ich es täte?” schnaubte Mjor und hob stolz das Kinn. Der Fuchs wollte ihn mit seinen Schauermärchen vom ach so gefährlichen Osthafen doch sowieso nur davon abhalten, bei einem anderen Händler zu kaufen.

“Dann würdet ihr vermutlich ohne das nötige Papier zu eurem Meister zurückkehren – oder gar nicht.” Der letzte Zusatz des Elfen machte Mjor tatsächlich ein wenig Angst, denn es war in der Tat gefährlich, sich des Nachts im Osthafen herumzutreiben, doch sein Stolz ließ es nicht zu, dass er es nun offen zeigte. Diese Genugtuung würde er dem Langohr niemals geben! Er würde jetzt das verdammte Papier zu einem leicht überhöhten Preis kaufen und dann so wie fast jeden Tag mit einem gehörigen Groll auf den geizigen Händler aber vor allem wütend auf sich selbst nach Hause trotten.

“Also was verlangt ihr nun?” stieß Mjor zwischen zusammengekniffenen Zähnen hervor. Er hatte nur zwanzig Heller bei sich und der handelsübliche Preis für die fünfzig Blatt lagen bei etwa acht bis zehn Hellern. Viel mehr Spielraum bot das Handels- und Handwerksgesetz nicht, doch nicht alle Händler waren derart Gesetzestreu. Vor allem aber nicht die Elfen, die dem Konzept der Gesetze zivilisierter Völker nur selten etwas abzugewinnen vermochten.

Syandrill fuhr sich über das aalglatte Kinn und schien für einen Moment zu rechnen. Mjor platzte nun fast der Kragen. Als ob der Händler nicht wusste, was er wollte. Ganz genau wusste er das!

“Zwölf und ein Handschlag beschließen das Geschäft.” stellte er mit der für sein Volk üblichen Redewendung in den Raum. Mjor schüttelte fassungslos den Kopf. Er hatte es gewusst. Der Elf hatte endgültig den Verstand verloren.

“Zwölf?” rief er erbost aus. Als der kräftige Ruf über die breite Straße hallte, blickte Syandrill sich sofort hektisch um und musterte die vorbeitreibende Menge mit leicht sorgenvollem Blick. Einige der Händler auf der anderen Straßenseite beobachteten sie, doch sie kannten Syandrill. Nicht selten stritt sich einer seiner Kunden mit dem Elfen. Sie wandten sich schnell wieder ab und widmeten sich wieder ihren eigenen Geschäften.

“Ihr verscheucht mir die Kundschaft, Zwerg! Entweder ihr kauft oder ihr schweigt still.” Syandrill hob nun seine rechte Hand auf Kopfhöhe und wischte mit einer Drehung des Handgelenks schwungvoll zur Seite. Mjor war neben einer Elfenfamilie aufgewachsen und erkannte die Geste als eine der unflätigsten der Elfen, welche dem gestreckten Mittelfinger der Menschen fast gleichzusetzen war. Gepaart mit dem fast schon verächtlich ausgespienen ‘Zwerg’ glich es einem Schlag ins Gesicht. Er funkelte den Händler an und zischte:

“Ihr könnt mich ruhig beim Namen nennen Syandrill, oder denkt ihr, man könnte euch für einen Verräter am Volke halten, wenn ihr euch zu sehr mit einem der unseren verbrüdert?” Es war Mjor egal, ob er über die Stränge geschlagen haben mochte oder ob seine Worte den Händler verletzten. Vielleicht wollte er ja eben das erreichen. Er hatte einfach genug von den seltsamen Methoden, mit denen der Elf ihm tagtäglich einen Heller nach dem anderen aus der Tasche zog. Wie viel Geld er schon bei diesem Langohr gelassen hatte! Mjor wagte gar nicht, es im Kopf zusammenzurechnen! Alles in allem musste er die Differenz aus eigener Tasche bezahlen und er hatte nicht vor, auch nur einen weiteren Heller an diesen Geizkragen zu verschwenden.

“Ihr wagt es, derart mit mir zu sprechen? Ich könnte euch wie meine übrigen Freunde beim Namen nennen, doch leider taucht ihr in dieser Liste nicht auf und solltet ihr euch noch einmal bei mir blicken lassen, werde ich euch den Tritt verpassen, nachdem ihr so sehnlichst bettelt! Und nun geht mir aus den Augen!”

“Wir werden ja sehen, wer hier wem was verpasst! Und glaubt nicht, ich würde noch einmal bei euch kaufen! Solange ich Meister Zanderachs Lehrling bin, wird kein Blatt mehr den Weg von diesem Stand zu einer seiner meisterlichen Karten finden! Darauf könnt ihr alles Geld, welches ihr hier unter dem Tisch hortet verwetten!” Mjors Augen verengten sich zu Schlitzen, während der Elf ihn seinerseits zornig anfunkelte.

Obwohl er ihm in diesem Moment sicher ebenfalls gerne an die Gurgel gegangen wäre, blitzte doch ein Funken Angst in seinen schmalen, blassblauen Elfenaugen auf. Mjor war sich nicht sicher, ob er sich das Ganze nur eingebildet hatte, doch er konnte es sich gut vorstellen. Es passte zu Syandrill, dass die Angst um ein verpasstes, dauerhaftes Geschäft seine nachtragende Ader unterdrückte. Sie hatten sich schon öfter gestritten und sich verflucht – das lag in der Natur des Handels – doch noch nie war es so extrem ausgefallen. Mjor war sich nicht sicher, ob es jemals wieder einen Wortwechsel zwischen ihnen geben würde. Er konnte jedenfalls gut darauf verzichten!

Einige vorbeigehende Kaufleute waren inzwischen stehen geblieben und hatten kleine Gruppen gebildet, die nun eifrig tuschelten, doch als Mjor auf der Stelle herumfuhr, wandten sie sich allesamt ab und vermieden es, Blickkontakt mit ihm herzustellen. Mjor schüttelte den Kopf. Diese Midstädter und ihre Gelüste nach Aufregung und Krawall.

Er beachtete den Elfen nicht weiter, der ihm einige Verwünschungen hinterherrief und lief schnellen Schrittes die südliche Marktstraße Richtung Osthafen davon.

Als er an der Kreuzung zur nördlichen Salz-straße stand und erneute Zweifel sich in seinen Verstand drängten, warf er einen prüfenden Blick zum Himmel. Die Nacht war hell. Auch, wenn er sich in den abgelegeneren Gassen im Hafen aufhielt, würde das helle Mondlicht viele Gauner abschrecken. Die meisten Verbrechen geschahen seines Wissens nach in den dunklen Nächten des Winters, in denen sich dicke Wolkenbahnen vor den Mond schoben. Hier in Midstadt war es recht sicher, doch der Osthafen war größer und zahlreiches Gesindel trieb sich in den dem Pier abgewandten Straßen und Gassen herum.

Mjor senkte den Blick und atmete einmal kontrolliert aus. Sein Blick fiel dabei wie durch Zufall auf eine große Pfütze und das leicht vibrierende Spiegelbild, welches im trüben Wasser kaum noch zu erkennen war.

Für einen Zwerg seines noch recht jugendlichen Alters von zweiunddreißig Jahren war Mjors Erscheinung recht gepflegt. Natürlich rasierte er sich seinen Bart nicht – kein Grimbar, der etwas auf sich hielt, würde es wagen, ein Messer an sein Heiligtum anzusetzen – doch seine Mutter hatte ihm damals erklärt, dass sie von den Zwergen aus den östlichen Hügeln abstammten. Auch, wenn ihre Familie schon Jahrhunderte in Aith Hazar lebte – Die Abstammung setzte sich fort, egal, wo man sich niederließ. Er musste also damit leben, dass seine Reife noch einige Jahrzehnte auf sich warten ließ. Doch jugendliches Aussehen stand auf der einen Seite. Feigheit jedoch wollte Mjor sich nicht durchgehen lassen. Es gab keinen Grund, den Osthafen zu fürchten. Alles in allem war die Hafensicherheit eine der am stärksten besetzten Abteilungen in ganz Aith Hazar.

Mjor zog seine bestickte Schreiberkutte, welche ihn als einen der Midstädter Akademiker auswies, fest zusammen und machte sich auf den Weg. Er setzte nicht, wie die meisten Menschen um ihn herum den Weg die Hafenstraße hinab fort, sondern bog rasch in die Feringstraße ein. Sie war ebenfalls breit – so etwa dreißig Schritt – doch sie stand in keinem Vergleich zu den Hauptstraßen, welche sich oft meilenweit durch mehrere Viertel zogen. Auf der Hafenstraße in Midstadt hatten gut und gern fünf große Handelswägen nebeneinander Platz, doch nach dem großen Tor zum Osthafen, dort wo sich die Straße zum Pier hin verbreiterte konnte fast schon eine kleine Armee marschieren.

Aith Hazar war gewaltig. Mjor lebte seit über dreißig Jahren in der Stadt und hatte in dieser Zeit nicht einmal die Hälfte aller Stadtviertel besucht. Nun ja, einige der Viertel waren wohl kaum ein erstrebenswertes Reiseziel, doch alles in allem leistete die Stadtwache gute Dienste. Sie hielt das Gesindel von den Wohnvierteln fern und gute Gesetze regelten das Städterleben. Man konnte sich nicht beschweren.

Aufgewachsen war er in Theonsberg, in einer kleinen Gasse am Fuße des Klosterbergs. Seine Familie war arm, doch er hatte es geschafft, in den Tarlensorden aufgenommen zu werden und eine der wenigen begehrten Lehrstellen bei Meister Zanderach zu ergattern! Es gab viel Arbeit in der Stadt, doch nicht alle Tätigkeiten waren derart attraktiv, wie die interessante Arbeit für einen stadtbekannten Kartographen. Die Bewohner kannten seinen Meister und wo der Name Mjor nur ein zögerliches Stirnrunzeln hervorrief, hatte ihm der Name Zanderach schon die ein oder andere Tür geöffnet.

Mjors Laune klärte sich langsam, nachdem die unangenehme Begegnung nach und nach in Vergessenheit rückte und die Vorfreude auf das bessere Geschäft am westlichen Landmarkt ihm den Fußweg versüßte.

Nach einigen Minuten kam die große Mauer in Sicht, welche Midstadt vom Osthafen trennte und das Bogen-tor baute sich vor ihm auf. Ein Regiment trat gerade aus dem kleinen Innenhof der Torkaserne und machte sich anscheinend auf den Weg durch das Tor. Vermutlich würden sie eine Nachtpatrouille zum Pier hinab beginnen. Sie waren noch etwa hundert Schritt von ihm entfernt und die Menge der Menschen, die des Nachts noch durch das Tor wollten, verdichtete sich zunehmend. Einige Teile der Stadt kannten einfach keine Nachtruhe.

Mjor beschleunigte seine Schritte. Falls er richtig schätzte, würde die Patrouille den direkten Weg zum Markt gehen. Er würde aufschließen und dann gelassen hinter dem kampfstarken Regiment zum Markt spazieren.

Er zwängte sich also zwischen zahlreichen Menschen hindurch, die entweder Waren für den nächsten Handelstag nach Midstadt brachten, oder wie er auch Richtung Hafen unterwegs waren, um zu trinken und zu feiern oder zu den Docks zu gehen.

Nachdem er aufgeschlossen hatte, spazierte Mjor hinter dem Regiment her und genoss den kühlen Nachtspaziergang, der seinen Verstand klärte, in vollen Zügen. Er musste sich nicht beeilen. Die Soldaten marschierten nicht sonderlich schnell und so hatte Mjor alle Zeit der Welt, Osthafen genauer zu betrachten.

Kurz nach dem Tor vollzog die nördliche Salzstraße eine Biegung und eine wohltuende Mischung aus dem Lärm Betrunkener und der warmen Luft des Herdfeuers kam ihm aus dem ‚Gasthaus am Nordtor‘ entgegen. Es war ein großer, zweistöckiger Komplex, welcher im oberen Teil einen weiteren Schankraum und einige Kammern zum Übernachten bot. Mjor hatte einmal gehört, dass die Preise hier für Osthafenverhältnisse übertrieben hoch sein sollten, doch im Vergleich zu einem Gasthaus am Midstädter Handelsmarkt waren sie immer noch ein Witz. Es war also kein Wunder, dass viele Arbeiter aus Midstadt hier tagtäglich ihren Wein tranken und ihre Frauen betrogen, um dann wieder über alle Maßen betrunken und voller Scham zurück in ihre Häuser zu torkeln.

Mjor beschleunigte für einen Moment seine Schritte und schlenderte neben dem Regiment her. Ein Luftschiff schob sich für einen kurzen Augenblick vor den Mond und verdunkelte den Straßenabschnitt, auf dem Mjor spazierte. Der Schatten zog jedoch rasch vorüber und entfernte sich Richtung Westen. Die meisten Bewohner sahen schon gar nicht mehr auf. Die vorbeiziehenden Schatten der gnomischen Wunderwerke hatten inzwischen in ihren Alltag Einzug gefunden. Irgendwann fiel einem gar nicht mehr auf, dass sie da waren.

Die Häuser um ihn herum waren billiger und schäbiger, als die in Midstadt, die Mjor gewohnt war, doch diesen Teil des Hafens kannte er ja bereits. Er war schon des Öfteren nach einem langen Arbeitstag im ‚Gasthaus zum Nordtor‘ eingekehrt, doch weiter östlich war er noch nie gewesen.

Nach etwa zehn Minuten erreichte er schließlich einen hell beleuchteten Platz, auf dem einige festverbaute Holzstände geöffnet waren. Viele der Läden waren des Nachts geschlossen, doch alles in allem wurde doch noch eine erstaunliche Vielfalt an Waren feilgeboten. Mjor wandte sich nach rechts und sprach einen älteren Menschen an, der innerhalb seines Standes hinter einem aufgetürmten Berg an Lederwaren saß und die vorbeitreibende Menge beobachtete.

Er erkundigte sich nach einem Stand mit Schreibutensilien. Der alte Herr war freundlich und wies ihm ohne zu zögern den Weg die Straße hinab in eine der kleineren Seitenwege, die sich durch die verschachtelte Anordnung der Stände auf dem großen Platz auftaten.

Mjor beeilte sich. Es war schon spät und er wollte heute vielleicht besser in Midstadt übernachten und nicht hier in Osthafen. Die Zimmer dort waren schäbig und der Gestank des Hafenviertels saß tief in den Matratzen.

Der Schreibstand war viel kleiner, als die meisten anderen auf dem Markt, doch er war vollgestopft mit allerlei Tintenfässchen und Schreibfedern, welche an langen Ketten von der hölzernen Decke baumelten.

“Was kann ich für euch tun, Freund?” begrüßte ihn der Besitzer des Standes. Es war ein Halbling und obwohl Mjor bereits zu den kleineren Geschöpfen Aith Hazars zählte, überragte er den Winzling noch um etwa einen Kopf.

“Ich grüße euch, Freund.” Mjor legte höflich die Handfläche auf die Brust und der Halbling erwiderte die Geste. Er lächelte freundlich. “Ich suche Papier. Fünfzig Blatt – Einheitsgröße für die Herstellung von Stadtkarten.” Der Händler sprang sofort von seinem kleinen Stuhl auf und trat interessiert nach vorne an die Theke:

“Ein Kartograph?” fragte er neugierig. Mjor nickte. “Aber nicht aus dem Osthafen, richtig?” fügte er mit einem Seitenblick auf sein blaues Gildengewand hinzu. Mjor nickte erneut.

“Richtig. Ich bin Lehrling von Meister Zanderach.” Der Halbling klatschte scheinbar entzückt in die Hände:

“Zanderach! Was für eine Ehre. Ich hab’s euch gleich angeseh’n, dass ihr keiner von hier seid. Hätte mich gewundert, wenn die Midstädter Akademiker hier eine Schreibstube eröffnet hätten.” Mjor grinste.

“In der Tat. Ich denke nicht, dass das so bald passieren wird.” Der Halbling nickte versonnen und seine braunen Knopfaugen schnellten über Mjors Gestalt.

“Was führt euch hierher? Kauft ihr nicht bei Nioldberg? Er ist mein Vetter und bietet das beste Papier in Midstadt!” Mjor dachte einen Augenblick nach, doch er erinnerte sich nicht diesen Namen schon einmal gehört zu haben.

“Verzeiht, aber ich kenne euren Vetter nicht. Ich kaufe immer bei Syandrill.”

“Ach…” Der Halbling nickte wissend und rollte mit den Augen. Mjor schmunzelte. “Der Herr Elf, ja. Dann wird die Schreibstube von Meister Zanderach eher im Süden liegen? Schade… Ich dachte immer, er würde bei meinem Vetter kaufen.” Sein Blick trübte sich für einen Moment, als Mjor bestätigte:

“Hevsgasse, ja.”

“Wie auch immer, wie auch immer.” eiferte der Halbling und wechselte das Thema. “Nun seid ihr ja hier. Also lasst uns keine unnötige Zeit verschwenden, ja?” Endlich ein Händler nach seinem Geschmack! Direkt und ohne Umschweife zum Punkt kommend. Mjor stimmte sofort zu:

“Gut.”

„Nun…“ fuhr der Händler fröhlich fort. “Ich sage immer, Neukunden muss man belohnen. Heute Acht für die fünfzig Blatt und das Nächste Mal Neun – Garantiert! Nagelt mich drauf fest, wenn’s so weit ist!” Er streckte die offene Hand aus und Mjor schlug ohne zu zögern ein:

“Einverstanden!”

Der Halbling zog einen zusammengebundenen Stapel aus einer Schublade unter dem Tresen und sie beschlossen den Handel.

Zufrieden und voller Euphorie eilte Mjor zurück Richtung Stadtmauer. Jetzt hatte er Syandrill eins ausgewischt! Er hatte Geld gespart, das er für die Übernachtung in Midstadt aufwenden konnte und der Elf war vollkommen leer ausgegangen.

Seine Trophäe fest unter den Arm geklemmt hastete er die Gassen entlang, bis er an dem kleinen, runden Platz ankam, dort, wo die Salzstraße schließlich nach Norden zum Tor führte. Er hastete quer über den menschenleeren Platz. Sein Blick fuhr über den düsteren Kreis der umgebenden Häuser und dann über die Gassen zu beiden Seiten. Plötzlich fühlte er sich gar nicht mehr so sicher, wie noch Sekunden zuvor. Von einem Moment zum nächsten waren die Menschen um ihn herum verschwunden. Er blickte zurück. Keine Menschenseele. Ein Blick nach vorne. Niemand. Seine Hand fuhr instinktiv zu dem Knauf seines Messers, welches er immer am Gürtel trug. Er hielt inne. Hatte er da irgendetwas gesehen? Nein… oder etwa -? Er verengte die Augen zu Schlitzen und versuchte die Dunkelheit der langgezogenen Gasse zu durchdringen. Sie verlief sich nach einigen Schritt in der vollkommenen Dunkelheit tiefer Schatten, welche die hochragenden Gebäude, die sich hier dicht an dicht reihten auf den schmalen Weg warfen. Nach kurzer Zeit durchdrangen jedoch seine scharfen Zwergenaugen die massiv-schwarze Wand und offenbarten ihm einige aschgraue Silhouetten unter einem etwa dreißig Schritt entfernten Hauseingang. Zwei Männer standen dort im Dunkeln und unterhielten sich.

Gerade, als Mjor die Szene schon als eine übliche Unterhaltung zweier Anwohner abtun wollte, bewegte sich ein weiterer Schatten im Hauseingang:

Es war eine Frau. Sie schien auf der untersten Treppenstufe zu sitzen. Selbst von hier aus konnte er den Umriss ihrer schulterlangen Haare erkennen, die sich vor den Treppenstufen des Hauseingangs deutlich abzeichneten. Mjor stellte den Kopf schräg und stutzte. Irgendetwas stimmte nicht. Ihn beschlich das vage Gefühl, dass dies keine simple Unterhaltung war. Die Schatten bewegten sich zu schnell – viel zu hektisch.

Mjor wusste nicht, was er eigentlich vorhatte, doch irgendwie fühlte er sich dazu gezwungen, mehr über die Sache herauszufinden. Wahrscheinlich hatte er sich sowieso geirrt, und einige betrunkene Freunde unterhielten sich einfach. Doch er überquerte dennoch hastig den Platz und nachdem er sich versichert hatte, dass die beiden Männer nicht in seine Richtung blickten, tauchte er in den Schatten der Gasse ein und näherte sich Schritt um Schritt der Szene. Mjor tastete sich voran und stützte sich dabei stets an der glatten Steinwand der linken Häuserreihe. Die Steine waren eiskalt und rau, doch seine Aufmerksamkeit war ganz und gar nach vorne gelenkt.

Nach und nach drangen gedämpfte Stimmen an ihn heran und offenbarten ihm ein angeregtes Gespräch, welches anscheinend in vollem Gange war:

„…konnten nichts machen.“ Beendete einer der beiden Männer seinen Satz. Irgendetwas schien ihn aufgebracht zu haben. Mjor war nun nahe genug herangekommen, um jedes einzelne Wort, das gesprochen werden würde, klar und deutlich zu verstehen. Er hielt inne und duckte sich hinter ein Holzfass, welches nun direkt vor ihm neben einem der Hauseingänge stand. Es war die einzige Deckung, die ihm die Gasse bot.

„Was denn, was denn, Kar, wer wird denn gleich. Willst du mir etwa unterstellen, ich hätte nicht ausreichend vorgesorgt?“ Der zweite Mann hatte geantwortet. Er wirkte kühl, nicht so aufgebracht und emotional, wie der andere. Der, den sie Kar nannten, schien nun seine vorherige Kritik hastig zurückzunehmen und korrigierte sich:

„Nein, nein! Natürlich nicht, Meister. Es ist nur so… wir können uns nicht sicher sein, dass die Sache so steigen kann, wie geplant. Die Eskorte umfasst -“

„Jetzt halt mal die Luft an, Kar.“ Mischte sich nun die Frau ein. Kar knurrte, schwieg jedoch sofort. Obwohl sie herrisch wirkte, war die Stimme der Frau dennoch weich und von einer seltenen Anmut. Es war die Art Stimme, die ein Mann hörte und sie nicht so schnell wieder vergaß. Von der Statur her war sie entweder eine Gnomin oder ein Halbling. Für eine Zwergin war ihre Stimme viel zu weich und wohlklingend. „Ist ja nicht so, dass wir Angst hätten…“ fuhr sie anscheinend an den dritten gewandt fort. „Aber es sieht so aus, als hätten sie die Eskorte auf sechs Männer erhöht. Ich hab‘ gehört einer vom Kollekt ist dabei. Werdet wohl noch einiges draufschlagen müssen, wenn ihr versteht…“

„Ja, draufschlagen…“ stimmte Kar mit kerniger Stimme zu. Der dritte, der bis jetzt erstaunlich still geblieben war, räusperte sich nun und antwortete mit verklärter Stimme:

„Natürlich. Ich werde euch angemessen bezahlen.“ Kar grunzte nun zufrieden und erklärte:

„Dann sind wir uns ja einig. Wir werden dann gleich morgen -“

Plötzlich durchzuckte ein blauer Blitz die Gasse. Sie wurde für einen sekundenbruchteil in grelles, azurblaues Licht getaucht. Ein gellender Schmerzensschrei, begleitet von einem überraschten Ausruf der Frau, durchschnitt die friedliche Abendruhe. Er verebbte so schlagartig, wie der unheimliche Lichtschein sich zurückzog.

Mjor zog sich hastig hinter das Fass zurück. Was war das denn gewesen? Sein Herz pochte wie wild, während er sich erschrocken den Mund hielt. Beinahe hätte er vor Schreck geschrien.

„Ihr… ich… bitte…“ begann die Frau nun zu stammeln. Todesangst schwang in ihrer Stimme mit. Mjor spähte erneut hinter dem Fass hervor und versuchte angestrengt irgendetwas zu erkennen. Wer zur Hölle war dieser Mann?

 Die Frau begann nun unkontrolliert zu wimmern, während der Mann seine Stimme erhob. Mjor wusste nicht, ob das Adrenalin ihm Wahnvorstellungen einbrachte und ihm etwas vorspielte, doch es war fast, als ginge von der kühlen Stimme des Dritten eine düstere Präsenz aus:

„Wir hatten eine Vereinbarung, Elenor. Im Allgemeinen hält man Vereinbarungen mit mir.“ Das Wimmern der Frau verstärkte sich zu einem panischen Flehen, doch der Mann stand einfach da, während die graue Silhouette der Frau an dem Zipfel seiner Gewänder zerrte.

„Ich… ich werde euch dienen und eure Aufgaben erfüllen!“ stieß die Frau panisch hervor. Der Mann antwortete nicht.  Den Geräuschen nach zu urteilen trat er nach ihr. Sie fiel nach hinten auf die Treppen und stöhnte schmerzerfüllt. Der Mann lachte leise. Dann, plötzlich, verebbte sein Gelächter und er seufzte schwer:

„Elenor, Elenor… ihr haltet mich wohl für naiv. Als ob ihr mir gegenüber loyal wärt, nachdem ich euren Liebsten getötet habe.“

„Ich -“ setzte die Frau an, doch sie wusste bereits, was unvermeidlich war. Mjor schluckte und schweiß rann ihm die Stirn hinab. Was, wenn ihn der Mann nun sah – oder hörte?

Die Frau hatte es nun aufgegeben, zu sprechen und wimmerte nur noch. Der Mann trat einen Schritt von ihr zurück. Mjor zuckte bei der Bewegung instinktiv zurück hinter das Fass.

Er drehte sich hastig um und saß mit dem Rücken an das Fass gelehnt. Er schloss die Augen, als erneut das Licht die Dunkelheit durchdrang und ein zweiter Schrei die Nacht durchriss.

Er presste sich mit aller Kraft gegen das Holz und versuchte sich kleinzumachen – versuchte mit der Form des Fasses zu verschmelzen. Eine Ewigkeit wagte er es nicht, auch nur einen einzigen Muskel zu bewegen. Sein Atem ging flach und seine Kleidung war schweißüberströmt – das Paket mit dem Papier hatte er irgendwann achtlos fallengelassen –  Es saugte bereits Feuchtigkeit auf dem schlammigen Untergrund der Gasse.

Erst nach Minuten löste er sich aus seiner Starre und spähte vorsichtig seitlich an dem Fass vorbei, den Gang entlang. Dunkelheit hatte erneut Besitz von ihm ergriffen und eine frostige Stille des Todes lag über allem. Mjor erkannte die Umrisse der zwei Leichen, die in unnatürlich verrenkten Positionen im Dreck lagen.

Der Dritte war verschwunden. Mjors Puls war gleich wütender Hammerschläge, während er aufsprang und ohne zurückzublicken zum Tor eilte. Nur weg von hier. Hinein in die Sicherheit von Midstadt. Vergessen war der Konflikt mit dem Elfen, vergessen war das Glück um sein grandioses Geschäft. Drei wichtige Fragen beherrschten seinen Verstand und drängten sich in den Vordergrund, so sehr er auch versuchte, sie zu Boden zu zwingen und niederzuringen: Was hatten die Frau und ihr Geliebter geplant? Warum verlangten sie mehr Geld von solch einem furchteinflößenden Mann? Und wer war überhaupt der Dritte?

~

Das leise Knistern des Kamins mischte sich angenehm in das müde Gemurmel der sich unterhaltenden Männer. Mjors Gemüt beruhigte sich wieder ein wenig. In den letzten Stunden war er äußerst schreckhaft gewesen – Jedes Mal, wenn das laute Knacken der nassen Scheite des Feuers die friedliche Herdfeueratmosphäre durchbrach, war er nervös zusammengefahren. Bei jedem Gast, der die Tür zum Schankraum aufgestoßen hatte, vermutete Mjor schon den dritten Mann, welcher ihn aufgespürt hatte und nun gekommen war, um seinen einzigen Zeugen zu beseitigen. Sein fahriges Verhalten hatte ihm einige verstohlene Blicke des Wirtes eingebracht, doch nach kaum vernehmbarem Kopfschütteln hatte der Mann sich stets wieder seiner Arbeit zugewandt. Als Betreiber eines Gasthauses musste man lernen, mit den verqueren Typen, die einem tagein tagaus begegneten, umzugehen. Immerhin war da Mjors heutiges Verhalten noch über alle Maßen normal.

Viele der runden Tische hinter Mjor waren leer, denn die meisten Gäste waren inzwischen auf ihr Zimmer gegangen. Er saß nun an der Theke und war über seinen Metkrug gebeugt – umfasste ihn mit seinen zwei kräftigen Zwergenpranken. Er war schwach gewesen… Warum hatte er nichts unternommen, um den beiden zu helfen? War dies nicht seine Pflicht? Aber was hätte er schon tun können? Und verdienten die beiden überhaupt Hilfe? Es hatte auf ihn nicht so gewirkt, als wären sie das Ebenbild absoluter Unschuld und Frömmigkeit. Doch wer war er, zu richten? Er selbst vermochte nicht einmal, Tarlens Segen zu empfangen. Mjor zog bei dem Gedanken fast schon unbewusst seine Gebetskette aus der Manteltasche und schob sie um sein linkes Handgelenk. Die Holzkugeln zwickten auf den kurzen, dichten Haaren seines Unterarms, doch nach einem leichten Schütteln des Handgelenks ging es vorüber.

„Ihr wirkt nicht wie ein gläubiger Mann…“ Mjor war derart in seine Gedanken vertieft gewesen, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie der Elf sich neben ihn an die Theke gesetzt hatte. Der durchtrainierte Mann war ihm schon aufgefallen, als Mjor vor etwa drei Stunden in die Taverne getürmt war. Er hatte zuerst jeden Einzelnen argwöhnisch gemustert, bevor er sich an die Theke gesetzt und den ersten Krug in einem kraftvollen Zug heruntergestürzt hatte. Dabei war ihm natürlich sofort der seltsame Elf aufgefallen, der allein an einem runden Tisch nahe des Kamins saß. Er war der einzige gewesen, der bei Mjors Ansturm nicht aufgeblickt hatte. Er saß einfach still da und widmete sich, die Arme vor den schlichten, braunen Reisegewändern verschränkt, seinem Getränk. Mjor hätte schwören können, dass er ein schüchterner, in sich gekehrter Einzelgänger war. Er hatte sich wohl geirrt.

„Ach?“ gab Mjor mürrisch zurück. Ihm war nicht nach Reden zu Mute und von Langohren hatte er nach der täglichen Begegnung mit Syandrill sowieso die Schnauze voll.

„Ihr könnt es mir nicht verdenken. Die Siand’r erschütterte, als eure Aura sich mit diesem Ort vermischte.“ Mjor schwieg. Was brabbelte dieser Irre da von einer Aura? Hatte er darum gebeten, angesprochen zu werden? „Es war ein kalter, klar zu vernehmender Schock.“ Fuhr der Elf inzwischen unbeirrt fort.

Mjor hob verwirrt den Kopf und sah in das betrübte Gesicht eines Fremden. Er kannte ihn nicht. Er hatte ihn noch nie in seinem Leben gesehen. Und doch wirkte der Blick des Elfen, wie der eines guten Freundes, der sich ernsthafte Sorgen machte.

„Was wisst ihr schon über Glauben…“ grummelte Mjor und hob die Hand. Der Wirt nickte. Der Elf bestellte auch. Er tat es jedoch mit einem sanften Kopfnicken. Der Wirt nickte erneut.

Es gab eigentlich keinen rationalen Grund, den Elfen von sich zu stoßen, doch nach seinen heutigen Erlebnissen konnte er nichtmehr lächeln – wollte nichtmehr fröhlich oder höflich sein.

„Ach, ich denke so einiges.“ Sinnierte der Fremde nun. Er schien über Mjors schroffe Art nicht verärgert zu sein. Es schien, als wäre er nicht einmal überrascht, dass er so reagiert hatte.

„Ach?“ murmelte Mjor erneut. Den wurde man wohl nie los… Der Elf lächelte versonnen, während er sein Gegenüber neugierig musterte. Mjor fühlte sich plötzlich seltsam verwundbar – als würde er auf dem Untersuchungstisch eines Heilers liegen und nur mit einem weißen Tuch bedeckt auf die wundersame magische Genesung warten. Er hob beide buschigen Brauen, während der Elf sich über das weiche Kinn strich und dann offensichtlich zu einem Schluss kam:

„Ja.“ Bestätigte er Mjors skeptisches Murren. „Der Glaube an Siand’r umfasst alles.“

„Auch Tarlen?“ Mjor konnte nicht glauben, dass der Elf das tatsächlich ernst meinte.

„Auch Tarlen.“ Behauptete der Fremde jedoch felsenfest.

Mjor schnaubte.

Es gab so vieles, das er hätte zurückgeben können. So viele Argumente, die die Kraft Tarlens über all die übrigen Götter stellte. Doch warum solche Energie an einen Fremden im Gasthaus verschwenden?

Aber warum eigentlich nicht?

„Tarlens Schein strahlt über alle Berge und durchdringt jeden Winkel der dämonischen Tiefen. Es schlägt verheerende Schneisen in die Reihen des Bösen und ist recht und gerecht.“ Die Rede sollte eigentlich das göttliche Feuer des brennenden Herzens transportieren, doch die Flamme wirkte bei ihm selbst eher wie die einer flackernden Kerze im Herbstwind.

„Nun, Siand’r liegt ebenso in dem, welches ihr das Böse nennt, Freund.“ Freund? Der Fremde war wirklich ein Spinner.

„Ihr nennt mich Freund?“ hakte er immer noch ungehalten nach. „Ihr kennt mich doch nicht…“

„Oh, ich kenne euch.“ Mjor wollte bereits protestieren, als der Elf hastig den Kopf schüttelte und verteidigend die Hand hob: „Nein, nein! Nicht so, wie ihr denkt. Ich kenne nicht eure Geschichte, euer Leid und das Feuer eures Herzens, so wie euresgleichen es zu nennen pflegt. Ich kenne vielmehr euer Wesen. Ich habe mich damit vertraut gemacht. Und ist es nicht das, was Freundschaft ausmacht? Die Vertrautheit mit dem Wesen des Freundes.“

„Das Wesen? Ihr meint mein Siand’r?“ Mjor wusste nicht, warum er nicht zornig wurde, während der Fremde so auf ihn eindrang. Doch auf irgendeine verdrehte, fremde Art und Weise ergaben die Worte des Elfen Sinn.

Der Elf nickte und bestätigte damit seine Vermutung. Der Wirt knallte ihnen nun zwei Krüge auf den Tresen und zog Mjors Aufmerksamkeit auf sich. Weißer Schaum schwappte bei der schwungvollen Geste auf das aufgequollene Holz und verschwand rasch in einer tiefen Ritze der Holzoberfläche. Mjor nickte zufrieden und griff nach seiner Börse.

„Lasst nur, ich mache das schon.“ Der Elf hob den Arm und Mjor hielt mitten in der Bewegung inne. Der Elf fischte mit graziler Präzision eine bestickte Lederbörse aus einer Innentasche seiner Weste und zog zwei Heller heraus. Er reichte sie dem Wirt, der sie wortlos entgegennahm und ging.

Mjor wollte sich gerade bedanken und dann nachhaken, was der Elf denn damit gemeint hatte, als er sagte, dass Siand’r auch in Bösem läge, als ihm auffiel, dass der Fremde seinen Mantel geschnappt und sich über den linken Unterarm geworfen hatte. Mjor runzelte die Stirn:

„Ihr geht? Aber euer Bier?“

„Das findet schon eine Verwendung.“ Gab der Elf zurück und lächelte. Mjor zuckte mit den Achseln und nickte dann dankbar. Der Elf erhob sich von dem hohen Stuhl und schob ihn unter die Theke:

„Auf bald, ich muss nun aber wirklich gehen.“ Er nickte Mjor höflich zu.

„Aber wieso? Nun habt ihr mich neugierig gemacht, Elf. Erzählt mir mehr von dieser Aura.“ Zu seinem Unmut schüttelte der Elf jedoch den Kopf:

„Ein andermal. Der Schock ist Überwunden – Meine Arbeit hier getan.“ Er zwinkerte Mjor zu und rauschte dann davon.

Die Tür fiel krachend ins Schloss und die Mischung der gedämpften Gespräche und des Knisterns des Feuers rückte wieder in den Vordergrund seiner Wahrnehmung. Mjor schüttelte immer noch überwältigt den Kopf, spielte versonnen mit den Holzkugeln seiner Gebetskette und lächelte.

Was für ein seltsamer Tag.

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