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„Du solltest lernen, deinen Gebeten mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Wie oft belehrte ich dich nun schon in diesem Belang?“ Mjor vermutete, dass die Frage rhetorischer Natur war, doch er konnte nicht umhin, dennoch zu antworten:
„Ich denke, es müssen nun einhundertzwölf sein, Meister.“ Mjor liebte diese Art der Scherze, doch seinem Ausbilder entlockte er nicht einmal ein müdes Lächeln. Im Gegenteil – Meister Yvos blieb mitten im Laufschritt resignierend stehen und fixierte seinen Adepten mit eisernem Blick:
„Du solltest beginnen, die Sache mit dem nötigen Ernst anzugehen. Glaubst du nicht, es ist an der Zeit zu erkennen, dass durch eben diese Einstellung dein Problem überhaupt erst entstehen konnte?“ Mjor blieb nun ebenfalls stehen und drehte sich schwungvoll zu Yvos um. Sein Mentor hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt und wartete scheinbar auf eine Antwort. Seine weiße Ordenskutte fiel faltenfrei und offenbarte zwischen seinen Beinen das rote Siegel des Tarlensordens. Die Holzperlen seiner Gebetskette waren in die zwei Zöpfe seines langen, grauen Zwergenbartes eingeflochten. Nur Mentoren oder Paladinen war es gestattet, ihre Gebetsketten aufzulösen. Es war ein symbolischer Akt, der die unnachgiebige Stärke des Glaubens jener hochrangigen Mitglieder demonstrierte. Yvos hatte sich dazu entschieden, die Perlen seiner Kette dennoch zu tragen. Was er damit aussagen wollte, war Mjor nicht bekannt – es war ihm eigentlich auch egal.
„Ich denke nur, dass es manchmal wichtigere Dinge gibt, als zu beten.“ Erwiderte er vorsichtig.
„Du denkst.“ Schnaubte Yvos. „Das ist ja gerade das Problem. Du denkst immer, wo du eigentlich handeln solltest. Zeige etwas Demut!“ Er deutete herrisch auf das Ende des Kreuzganges, wo die schwere Holztür schließlich in den Westflügel des Klosters führte. „Ich möchte, dass du eine Stunde meditierst und über das nachdenkst, was ich dir jeden Tag aufs Neue sagen muss. Dann hilfst du Bruder Gerwen im Garten. Er braucht Unterstützung bei der Bekämpfung der Schädlinge. Wenn du dort fertig bist, kannst du zu Zanderach aufbrechen.“
„Aber es ist schon fast Mittag!“ protestierte Mjor. „Die Arbeit bei Gerwen dauert immer ewig und dann komme ich zu spät zur Zeichenstube! Zanderach wird ohnehin sauer sein – auch ohne meine Verspätung.“
„Ich weiß nicht, an welcher Stelle meine Anweisungen missverständlich waren.“ Antwortete Yvos kühl. Seine buschigen Augenbrauen zuckten schnell nach oben, während er langsam den Kopf drehte. Mjor wusste, dass dies das letzte Warnzeichen war, bevor sein Mentor die Geduld verlieren würde. Inzwischen kannte er seine unangenehmen Seiten gut genug. Er nickte knapp, um ihn nicht noch weiter zu provozieren und legte die rechte Hand auf die Brust.
„Ja, Meister.“ Dann eilte er hastig davon. Er warf die Stirn in Falten, während er durch den Westflügel zum Gebetssaal eilte. Was sollte er nun tun? Entweder er bekam Ärger bei Zanderach oder aber bei Yvos. Es war unvermeidlich.
Die schlichten Gänge der Klosteranlage zogen an ihm vorbei, während er sie zielstrebig durchquerte. Er begegnete einigen Ordensbrüdern, die wie er den Aufgaben ihrer Mentoren nachgingen und passierte dann wortlos den zu dieser Tageszeit gut gefüllten Speisesaal. An den vier langen Tafeln saßen etwa einhundert Novizen und aßen leise tuschelnd ihr Mittagsmahl. Es herrschte eine friedvolle Stimmung. Alles in allem waren die meisten der Anwärter des Tarlensordens in sich gekehrt und die zahlreichen Stunden der Meditation hatten sie für ihr noch recht junges Alter übermäßig besonnen und ruhig werden lassen. Es war eine große Gruppe von Einzelkämpfern. Irgendwann – wenn ihre Mentoren sie für bereit erklärten – würden sie das Averon absolvieren und dann Tarlens Kunde im ganzen Land verbreiten. Wann es soweit war, konnte allein Tarlen selbst wissen. Er gab schließlich seinen Segen, indem er den Novizen mit seiner Kraft durchflutete. Es kam oft plötzlich und zeigte sich stets schwach, doch die Veränderung, die ein Novize dann vollzog, war selbst für Ungläubige klar und deutlich zu erkennen.
Mjor wartete schon seit Jahren auf seine Erleuchtung, die ihn zum vollwertigen Mitglied des Ordens machen würde, doch bisher war sie ausgeblieben. Für ihn war es ein Rätsel, denn er befolgte Tarlens Weisheit Tag für Tag. Für seinen Mentor war die Sache jedoch vollkommen klar. Die Meditation, das Gebet und die Regeln des Ordens waren von oberster Wichtigkeit und die Erleuchtung würde so lange ausbleiben, bis Mjor dies schlussendlich verstand. Vielleicht lag das Problem ja eben darin, dass Mjor diese Ansicht überhaupt nicht teilte. Wieso sollte es im Interesse eines Gottes sein, ob er in einem Raum saß und über die Welt nachdachte?
Mjor zwängte sich gedankenverloren zwischen den Reihen hindurch und rückte seinen Rock zurecht. Er trug wie alle anderen hier die traditionellen grauen Ordensgewänder, die aus einer Weste und dem Waffenrock bestand, welcher durch die dicken, roten Ledergürtel zusammengehalten wurde. Nur, wenn er Besorgungen für Meister Zanderach in der Stadt machte, warf er noch das grüne Gewand der Gilde über die farblose Weste des Ordens.
Mjors Blick huschte noch ein letztes Mal über die Reihen, während er den Saal auf der Rückseite verließ. Kein Wunder, dass jeder so inbrünstig darum kämpfte, erleuchtet zu werden. In Tarlens Kloster wurden seit über vierhundert Jahren nur Grimbar aufgenommen und es war eine große Ehre ausgesucht zu werden. Bereits in ihrer Kindheit wurden ihnen Geschichten davon erzählt, welche Ehre denjenigen zu Teil wurde, die als Novizen in den Tarlensorden eintraten. Mjor hatte wie viele andere Jungen schon immer davon geträumt, auch einmal ein ruhmreicher Paladin zu werden, doch bereits in den ersten Wochen hier im Kloster war viel des ersten Glanzes verflogen. Als Kind träumte man von den strahlenden Kriegern mit Schild und Hammer, doch was den Kleinen nicht erzählt wurde, war, dass nur eine Hand voll Männer in hundert Jahren den vollen Segen Tarlens empfing und der Weg zur Erleuchtung ein harter, steiniger war.
Mjor schloss grübelnd die Tür zum Speisesaal und schlenderte gedankenverloren den Korridor hinab, bis ihn eine flüsternde Stimme an seiner Seite zusammenfahren lies:
„Hey, Mjor.“ Mjor erkannte die Stimme von Vothan – seinem engsten Freund, seit er vor drei Jahren hier mit der Ausbildung begonnen hatte. Vothan – oder Othe, so wie er und einige andere Freunde ihn nannten – stand direkt neben ihm. Hinter seinem Freund war die Tür zu einer Studierstube immer noch leicht geöffnet.
„Hey, Othe, wie geht’s dir?“ grüßte Mjor zurück und warf einen neugierigen Blick auf den Türspalt, aus dem gedämpftes Kerzenlicht nach außen drang. Ein sanfter Lichtschein warf einen leichtschimmernden Kranz um seine muskulöse Gestalt, während Othe mit den Achseln zuckte und lässig erwiderte:
„Ach… das übliche. Ich muss die Abschriften noch ein drittes Mal kopieren.“ Mjor grinste. Er kannte die Handschrift seines Freundes nur zu gut.
„Denkst du, das nützt etwas?“ gab er zurück. Othe schüttelte bestimmt den Kopf und drückte verstohlen die Tür hinter sich zu:
„Nein. Aber Xerdesh wird es wie immer bald aufgeben.“ Er grinste breit und Mjor musste lachen. „Er ist ein sturer Bock, aber meine Schrift ist schlimmer.“
„Du bist einfach ein hoffnungsloser Fall…“ erwiderte er kopfschüttelnd und all seine schlechte Laune war verflogen. „Willst du nicht einmal versuchen, dich zu bessern?“ Othe winkte ab und wechselte statt zu antworten rasch das Thema:
„Und bei dir?“
„Absolutes Chaos.“ Entgegnete Mjor seufzend.
„Wenn ich dich so ansehe, hast du gerade mit Yvos geredet.“ Othe war zwar bei Paladin Xerdesh in der Ausbildung, doch ihn und Mjor verband seit drei Jahren eine innige Freundschaft und so kannten sie den Meister des jeweils anderen ebenso gut, wie ihre eigenen.
Mjor nickte und verzog das Gesicht:
„Gut geraten. Wollen wir nicht tauschen? Ich überlasse ihn dir gerne.“ Es war ein andauernder Scherz zwischen ihnen beiden, doch eigentlich konnte es auch ein ernster Vorschlag sein. Othe meditierte täglich mehrere Stunden und trainierte stets die Kampfkunst des Ordens. Der rothaarige Zwerg war muskulös und durchtrainiert, hasste jedoch den akademischen Teil ihrer Ausbildung. Er verabscheute das Kopieren und studieren, welches ebenso zu ihrem Alltag gehörte, wie die Arbeit im Garten oder das Training mit den Ordenswaffen, welches er so liebte. Er hätte perfekt zu Paladin Yvos gepasst.
„Was ist das Problem?“ hakte Othe nach und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ich muss meditieren und dann Gerwen im Garten helfen. Erst dann darf ich zu Zanderach.“
„Gerwen, mhm…“ sinnierte Othe. „Wie ich den kenne, wird er den Teufel tun und dich früher gehen lassen.“
Mjor schnaubte, sagte jedoch nichts. Seiner Meinung nach war das Antwort genug.
Othe schüttelte gedankenverloren den Kopf, hob dann jedoch plötzlich die Hand streckte den Zeigefinger aus, während seine Augen aufblitzten. Er führte schon wieder etwas im Schilde.
„Was?“ wollte Mjor wissen und stemmte die Hände in die Hüfte.
„Ach…“ erwiderte Othe mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht: „Wie der Zufall so will, wurde ich zur Strafe für meine – ich zitiere – unzumutbare Schrift mit Aufsichtsdienst bestraft. Ich werde dich eintragen und du kannst direkt zu Gerwen -“ Mjor atmete schon erleichtert auf, doch Othe war noch nicht fertig. Er hob die Hand und fügte mit gehobener Stimme hinzu: „- WENN du nach der Arbeit diese Stunde mit mir trainierst!“
Mjor rollte mit den Augen:
„Othe, komm schon!“ doch sein Freund blieb eisern. Er schüttelte den Kopf und verschränkte stur die muskulösen Arme:
„Nichts da. Ich brauche jemanden, der mit mir trainiert und mir scheint, es würde dir gut tun.“ Er hob seine Brauen, während sein Blick auf Mjors Bauch fiel. Mjors Hand fuhr wie von selbst die Weste hinab und folge Othes Blick. Nun ja, eigentlich war der Vorschlag durchaus annehmbar.
„Nun gut…“ akzeptierte Mjor. „Aber zuerst muss ich dir was erzählen…“ Othe lächelte, scheinbar zufrieden, einen Trainingspartner gefunden zu haben und nickte Mjor aufmunternd zu:
„Ja?“ fragte er neugierig, doch Mjor schüttelte nur den Kopf und flüsterte:
„Nicht hier…“ Er bedeutete Othe wortlos, in die Studierkammer zu gehen und folgte ihm dann.
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„Du willst mir sagen, dass ein Magier die beiden erledigt hat, nur, weil sie mehr Geld verlangt haben?“ Othes Blick verriet, für wie unwahrscheinlich er das Ganze hielt. Er hatte ihm gebannt gelauscht, während Mjor seine letzte Nacht geschildert hatte. Er hatte gelacht und gescherzt, als Mjor von Syandrill erzählte, hatte sich für ihn gefreut, als er von seinem grandiosen Geschäft berichtete, doch als seine Erzählung die Geschehnisse in der Gasse erreichte, war er schlagartig ernst geworden.
„Ich sage dir nur, was ich gesehen habe – Nicht mehr und nicht weniger.“ Wiegelte Mjor ab. „Ich behaupte nicht, zu wissen, was Magier vorhaben und was nicht.“
„Bist du zur Wache gegangen?“ Othes Frage schwebte einige Sekunden im Raum, doch Mjor schwieg. Othe runzelte zunächst die Stirn und schüttelte dann den Kopf:
„Mjor!“ rief er tadelnd aus. Mjor blickte beschämt zu Boden. „Du musst es der Wache melden.“ Fuhr sein Freund fort. Mjor nickte:
„Ich weiß ja, ich weiß ja. Ich wollte nur…“ Er hielt mitten im Satz inne, doch sein Freund ließ nicht locker:
„Was wolltest du?“ Mjor zuckte mit den Achseln:
„Ich wollte da nicht mit reingezogen werden!“ Er sah seinen Freund entschlossen an und schüttelte leicht den Kopf. „Der Mann ist gefährlich… Du hast nicht gesehen, was ich gesehen habe, Othe.“ Othe runzelte die Stirn.
„Du hast noch nie einen Magier praktizieren sehen? Dann empfehle ich dir eine Reise nach Arkanost zur -“ begann Othe zu scherzen, doch Mjor schnitt ihm das Wort ab.
„Ich meine es ernst, Othe. Er war kein einfacher Magister. Der Kerl hat ohne zu sprechen gezaubert… Ohne einen Kanal… Man muss nicht in Arkanost studiert haben, um zu wissen, dass das nicht möglich ist!“
„Das kannst du doch gar nicht wissen!“ protestierte Othe. „Du hast mir doch selbst gesagt, dass es zu dunkel war, um ihn zu erkennen. Da könnte es doch sein, dass -“
„Nein.“ Widersprach Mjor vehement. „Da war nichts. Und dann noch seine… seine Aura.“
„Seine Aura?“ stieß Othe ungläubig hervor. „Was willst du denn jetzt mit irgendeiner Aura?“
„Ich…“ Mjor schüttelte erneut den Kopf. „Ich weiß nicht. Sie war dunkel… düster -“ Er suchte nach dem richtigen Wort: „Blau.“ Stellte er überzeugt und zugleich verwirrt über seinen eigenen Schluss fest.
„Blau?“ wiederholte Othe fassungslos. Er sah Mjor an, wie einen Irren, der gerade behauptet hatte, die Welt wäre flach und würde von einer riesigen Schildkröte getragen.
„Ich weiß ja…“ räumte Mjor rasch ein. „Es klingt verrückt, doch es ist ein Gefühl. Mein Gefühl hindert mich daran, es zu melden. Ich wollte schon zur Wache, da hat mich irgendetwas davon abgehalten. Es war wie eine Kraft, die mich gegen meinen Willen zurückhielt.“
„Angst?“ erwiderte Othe schnaubend. Es stimmte. Mjor war nicht der mutigste unter den Ordensbrüdern – ja, er war nicht einmal der Mutigste hier in diesem Raum. Und doch war er nicht feige. Es war etwas Anderes gewesen, das ihn zurückgehalten hatte. Er konnte es weder erklären noch beschreiben, doch es war da – das Gefühl, dass er mehr wusste, als seine Sinne ihm jemals verraten konnten.
„Es war keine Angst…“ antwortete Mjor nüchtern. Normalerweise wäre er nun aufbrausend gewesen – hätte den Drang verspürt, seine Ehre verteidigen zu müssen – doch er musste das nicht. Er wusste selbst, dass er Recht hatte. Othe davon zu überzeugen, hätte ihm nichts eingebracht.
Sein Freund runzelte nun die Stirn und betrachtete ihn mit schräg gestelltem Kopf. Er schien einen Moment lang zu überlegen, bevor er zu einem Schluss kam und behäbig nickte:
„Was war es dann?“ fragte er. Wahrhafte Neugier stand in seine Stimme geschrieben – Kein Unglauben – keine Unterstellung, er würde nur seine Angst verleugnen – Es war allein die aufrichtige Neugier eines guten Freundes.
„Ich weiß nicht… ich kann es nicht beschreiben. Ich habe nur das starke Gefühl, ich muss etwas unternehmen.“
„Die beiden Gefallenen rächen?“ riet Othe. Es war nicht allzu abwegig. Ungerechtigkeit zu gleichen war einer der fünf Stützpfeiler des Tarlensordens. Mjor verneinte jedoch:
„Ich denke nicht, dass sie die Hilfe Tarlens verdient hätten.“ Othe sah überrascht aus, so etwas aus seinem Mund zu hören. Er teilte seine Ansichten nicht, doch in diesem Moment akzeptierte er sie.
„Was willst du dann unternehmen?“
„Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ich mit jemandem reden muss – Jemandem, der vielleicht Antworten kennt…“ Othe nickte zustimmend und schlug vor:
„Ein guter Plan. Gehe zu Urongaard und frage ihn um Rat.“ Mjor schüttelte heftig den Kopf. Der Anführer ihres Ordens war ein uralter Zwerg und ein weiser Mann. Mjor wusste jedoch schon genau, was der Erzpaladin ihm in dieser Sache zu sagen hätte. Alle Ratschläge, die aus einem Gespräch mit dem Obersten des Ordens hervorgegangen wären, hätten doch wieder nur auf die fünf Pfeiler gefußt. Es hätte ihn nicht weitergebracht. Er brauchte in dieser Situation eine Antwort, die tiefer ging. Er musste nun mehr über diese Aura erfahren, von der der Elf erzählt hatte.
„Nein.“ Widersprach Mjor. „Ich muss mit jemandem reden, den ich gestern im Gasthaus getroffen habe.“
Othes Augen weiteten sich erstaunt, doch er antwortete nichts. Stattdessen schüttelte er fast schon fassungslos den Kopf und beugte sich wieder über sein Schreibpult. Mjor konnte alles mit Othe teilen, doch wenn es um die Grundsätze des Glaubens ging, war er nicht kompromissbereit. Er folgte den Paladinen in dem, was sie lehrten und stellte wie alle anderen keine Fragen. In dieser Sache war Mjor vollkommen allein.
Er seufzte.
Als sein Blick auf die Kerze auf dem Pult fiel, die bereits nahezu heruntergebrannt war, fiel ihm erst auf, wie lange sie schon hier gesessen waren und geredet hatten. Erschrocken fuhr er hoch und schlug die Hände an den Kopf:
„Bei Tarlen! Ich habe die Zeit vollkommen vergessen! Ich muss sofort zu Gerwen!“
Er schob die Tür schwungvoll auf und hastete nach draußen. Kurz bevor er sie zudrückte, steckte er jedoch noch einmal hastig den Kopf in das Zimmer und fragte:
„Du trägst mich ein?“ Othe sah von seiner Arbeit auf, nickte und deutete dann mit dem tropfenden Federkiel auf Mjors Brust:
„Denk an das Training! Und melde die Sache bei der Hafensicherheit!“ Mjor nickte knapp und verschwand dann aus dem Zimmer. Er hastete durch das Kloster und sprintete die letzten hundert Schritt bis zu den Gartenanlagen, wo ihn Meister Gerwen schon sehnlichst erwartete.
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Meister Gerwen war überhaupt nicht erfreut, als Mjor schließlich über eine halbe Stunde zu spät im Garten auftauchte. Statt ihn jedoch zu rügen, wie es manch anderer Meister getan hätte, blieb er ruhig und betraute ihn für die wenigen Abendstunden mit mehr Aufgaben, als ein einzelner Mann an einem ganzen Tag geschafft hätte. Es war Gerwens bevorzugte Art der Bestrafung. Er appellierte nicht an das Gewissen – halste einem keine fünf Stunden der Meditation auf – Von all diesen Dingen hielt er gar nichts. Der kurze, stets mit einer feinen Schicht aus Erde und Staub bedeckte Zwerg blieb freundlich und zuvorkommend, genoss es jedoch in vollen Zügen, widerspenstigen Adepten so viel Arbeit aufzuhalsen, bis sie vor Erschöpfung umkippten oder von selbst zur Vernunft kamen.
Er selbst hatte sein ganzes Leben hier im Klostergarten verbracht. Wenn die Glocken im Morgengrauen läuteten und die Adepten ihre müden Glieder streckten, war er bereits auf den Feldern und wenn die Massen der Ordensmitglieder zum Nachtgebet in den Tempel strömten, hielt er für einen kurzen Augenblick inne, nur um anschließend all seine grünen Schützlinge zu kontrollieren und die Werkzeuge für den nächsten Arbeitstag vorzubereiten.
Gerwens Lehrling war seit etwa einem Jahr Bruder Tjeres, der sich bald ebenso fleißig gezeigt hatte, wie sein neuer Meister. Gerwen lobte seinen Schüler in den höchsten Tönen, wann immer der dickbäuchige, gutmütige Adept wieder einmal eine seiner irrwitzig hohen Anforderungen noch übertraf. Tjeres zeigte Anzeichen dieses gewissen grünen Daumens, den Gärtner so dringend benötigten, doch Mjor war dieser ebenso fremd, wie einem Halbling das oberste Brett eines Regals.
Tjeres rupfte gerade Unkraut aus einem Kohlbeet, als Mjor angelaufen kam. Der beleibte Gärtner sah kurz auf und grüßte ihn fröhlich. Er war zwar nicht der Klügste und Stärkste des Ordens, doch hier in den Gärten hatte er seine Erfüllung gefunden. Er schmunzelte immer wieder, als Gerwen Mjor seelenruhig und mit einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen seine Arbeit für diesen Nachmittag erklärte.
Mjor schluckte und lies die gesamte Aufzählung über sich ergehen, bis Gerwen ihm zum Abschluss eine Harke in die Hand drückte und ihm mit seinen von der Gartenarbeit mit Schwielen übersäten Pranke auf die Schulter klopfte. Mjor ließ den Kopf hängen und starrte auf den Boden unter seinen Füßen. Tjeres verkniff sich offensichtlich ein Lachen, während Gerwen wortlos ging, um die Blumenbeete im etwas entfernten Kreuzgang zu gießen.
Nun stand Mjor da und überlegte. Er würde es heute niemals zu Zanderach schaffen. Außerdem hatte er das Papier verloren. Sein Meister würde außer sich sein vor Zorn. Er hatte keine Ahnung, wie er aus dieser Schleife der Bestrafungen ausbrechen konnte.
„Was treibt dich um?“ fragte da plötzlich Tjeres, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. Mjor blickte zu dem Grimbar hinab, der am Rand des steinernen Weges kniete und in einem Beet wühlte. Tjeres schien sich dabei alle Zeit der Welt zu lassen. Er griff seelenruhig einen Strunk Unkraut knapp über der frisch aufgewühlten Erde und zog dann einmal kräftig daran. Dann legte er das erdige Bündel in den Zinkeimer neben sich. Er hielt einen Moment inne, blickte zum wolkenverhangenen Himmel und senkte dann den Kopf, nur um das Ritual mit dem nächsten Strunk erneut zu beginnen.
Mjor beobachtete den Lehrling lässig auf die Harke gestützt und wartete, bis Tjeres drei weitere Bündel Unkraut beseitigt hatte. Dann seufzte er:
„Ach…“ klagte er und Tjeres brummte zustimmend. „Wird Gerwen nicht sauer, wenn du so langsam arbeitest? Woher nimmst du dir Zeit, zu meditieren, wenn du allein für das Unkraut so lange brauchst?“ Tjeres antwortete mit einer Gegenfrage, ohne in seiner monotonen Arbeit innezuhalten:
„Weißt du, was ich an der Gartenarbeit so liebe?“ Mjor runzelte die Stirn:
„Nein… was? Sieht mir ziemlich öde aus.“ Tjeres lachte kurz auf, als hätte Mjor einen besonders cleveren Witz gemacht und schüttelte dann versonnen den Kopf:
„Die Pflanzen lassen mir die Zeit, mein eigenes Tempo zu gehen.“ Das letzte grüne Bündel fiel geräuschlos in den Eimer und Tjeres streifte zufrieden seine Lederhandschuhe ab und wischte sich mit dem dreckigen Handrücken über die schweißnasse Stirn. Er drehte sich um und sah zu Mjor auf. Er blinzelte dabei gegen das schwache Licht der Sonne, das direkt auf seine nun durch frische Erde verdreckte Stirn fiel.
„Du weißt doch sicher noch, dass ich nicht gerade der Beste in den akademischen Fächern war, so wie du…“ Mjor grinste verstohlen. „…Oder der athletischste Kämpfer so wie Othe oder Kado.“
„Ach… so schlimm ist es doch auch nicht…“ wiegelte Mjor ab, doch es klang nicht sehr überzeugend.
„Doch!“ Tjeres nickte bestimmt. „Es ist schon in Ordnung. Ich weiß das. Seit einem Jahr arbeite ich jetzt schon hier bei Meister Gerwen. Es hat nicht allzu lange gedauert, da bin ich zu dieser Erkenntnis gekommen. Es erfüllt mich. Und Meister Gerwen versteht mich.“
„Freut mich, dass du zufrieden bist.“ Antwortete Mjor. Er meinte es aufrichtig, doch für ihn war das nichts: Diese Gartenarbeit. Das Pflegen der Pflanzen… Welchen Zweck erfüllte diese Tätigkeit im Gefüge der gesamten Welt? Er wollte Gutes tun – wollte etwas verändern.
„Ich kann dir leider nicht deine Arbeit abnehmen, Mjor.“ Stellte Tjeres unvermittelt in den Raum. Mjor sah überrascht auf. Das hätte er auch niemals gefordert. Er schüttelte schwach den Kopf, um dem Lehrling zu zeigen, dass das schon in Ordnung war und Tjeres zuckte lässig mit den Achseln: „Er würde ohnehin merken, wenn ich es machen würde.“ Er grinste ihn frech an. Mjor lachte laut auf und stimmte zu:
„Ja… ich bin nicht sonderlich geschickt darin.“
„Wenn du es wirklich versuchen würdest, schon.“
„Ja… wenn.“ Tjeres nickte scheinbar wissend und deutete dann mit einem Kopfnicken auf das gläserne Gewächshaus am Ende des kurzen Weges. Kurz dahinter baute sich der massive Steinwall der äußeren Klostermauer auf.
„Du solltest mit den Früchten beginnen. Aber sei vorsichtig mit den Wurzeln. Die Stöcke verwelken, wenn du sie mit den scharfen Spitzen der Harke verletzt. Wenn Gerwen davon Wind bekommt, dann kommst du vor Ende des Monats nicht hier raus…“
Mjor lachte.
„Danke für den Rat.“
„Gerne.“ Der pausbäckige Zwerg schien überglücklich zu sein, ihm geholfen zu haben, stand voller Elan auf, packte seinen Eimer und marschierte in dieselbe Richtung wie Gerwen davon.
Als die Sonne schließlich die äußere Mauer unterschritt und sich lange Schatten über den Garten legten, erlöste Gerwen ihn von seinen restlichen Arbeiten. Mjor war erschöpft und von oben bis unten verdreckt, doch neue Energie durchflutete ihn, die ihn regelrecht beflügelte: Er würde sich am nächsten Tag Zanderach stellen, denn sein Meister würde ohnehin die Zeichenstube schon geschlossen haben. Nun wollte er erst einmal zurück in das Gasthaus und hoffentlich den seltsamen Elfen wiedersehen, um ihm einige Fragen über diese Siand’r zu stellen.
Er verließ das Klostergelände durch das östliche Seitentor und machte sich eiligst auf den Weg zu dem Gasthaus nahe der Ostmauer.
Mjor wartete den ganzen Abend in der Schankstube und brütete über seinem Bier. Der Elf jedoch, der ihn am vergangenen Abend so verwirrt und zugleich erstaunt hatte, tauchte nicht wieder auf. Was hatte er sich auch dabei gedacht? Aith Hazar war groß und der Elf konnte überall sein. Ja, er kannte nicht einmal seinen Namen. Bei allem, was er wusste, konnte er sich bereits auf einem Schiff befinden, welches zu einer der großen Kolonien segelte.
Nach einigen Stunden gab er schließlich auf und sah ein, dass seine Chancen minimal waren, ihn hier noch einmal zu treffen. Kurz bevor er jedoch ging, nahm sich Mjor noch einmal den Wirt zur Seite und schob ihm einen Heller über die Theke zu:
„Möge Tarlens Segen mit euch sein, guter Mann.“ Brummte er und der Wirt deutete eine knappe Verbeugung an.
„Danke euch, Bruder.“ Mjor legte respektvoll die rechte Hand auf die Brust und beugte sich dann nach vorne:
„Sagt, erinnert ihr euch an mich?“ Der Wirt musterte ihn eindringlich und stellte den Kopf schräg, wie, um eine neue Perspektive zu erhalten. Dann nickte er eifrig:
„Ja, ja… ihr wart doch gestern hier und habt euch mit diesem Langohr getroffen…“ Mjors Augen hellten auf, während er eifrig nachhakte:
„Eben um diesen geht es mir… kanntet ihr ihn?“
„Keiner eurer Freunde?“ fragte der Wirt knapp und runzelte verwirrt die Stirn.
„Nein.“ Stellte Mjor richtig. „Ich kannte ihn wohl ebenso wenig, wie ihr ihn kennt.“
„Ach… also seid ihr auf der Suche nach dem Spinner?“ Der Wirt griff sich einen Krug aus dem Schrank und entfernte sich kurz ein paar Schritte von Mjor. Er befüllte ihn hastig, während ein großer Schwall der köstlichen Flüssigkeit über den Rand hinausschwappte und knallte ihn dann vor einen Reisenden. Mjor wandte den Kopf und betrachtete den Fremden:
Der Mann saß einige Stühle weiter am Tresen und hatte einen schweren, olivgrünen Mantel über den benachbarten Stuhl geworfen. Eine kreisförmige, halbverrostete Metallbrosche baumelte seitlich hinab und ein schwerer Waffengurt lag zusammengerollt darüber. Das dazugehörige Kurzschwert lehnte ausgefädelt in der Scheide an eben jenem Stuhl. Die hohen Lederstiefel, welche fest auf dem Boden ruhten, trieften vor Schlamm. Der Mann war ungeheuer groß. Mjors Blick löste sich von der Ausrüstung und wandte sich erneut dem Menschen zu. Er war ein Mann mittleren Alters, dessen lange, braunen Haare zu einem schulterlangen Zopf zusammengebunden waren. Er hatte sich tief über den Tresen gebeugt und sich mit beiden Ellbogen abgestützt, so dass sein Gesicht für Mjor von seinen muskulösen Unterarmen verdeckt war. Der Fremde war keinen Deut zusammengezuckt, als der Wirt den Krug vor ihn geknallte hatte, obwohl er auf Mjor etwas abwesend wirkte. Diesen Mann schien nichts so einfach aus der Ruhe bringen zu können.
Der Wirt kam nun zu Mjor zurück und entschuldigte sich hastig:
„Die Arbeit… ihr versteht.“ Mjor nickte. „Wo waren wir?“ Mjors Blick sprang erneut zu dem Reisenden, doch der schien sie beide nicht weiter zu beachten, sondern widmete sich voll und ganz seinem Krug.
„Ihr fragtet, ob ich das Langohr suche und das tue ich auch. Ihr wisst nicht zufällig, wohin er wollte oder woher er kam?“
„Nein.“ Der Wirt schüttelte den Kopf und lies dann den Blick suchend hinter Mjor über den Schankraum schweifen. Dann fixierte er Mjor erneut und fuhr fort: „Darf ich fragen, was ein Paladin mit einem seltsamen Langohr wie diesem will?“
„Das ist meine Angelegenheit.“ Gab Mjor knapp zurück. Er wollte nicht unhöflich sein, doch das ging den Wirt beim besten Willen nichts an. Der hochgewachsene Mann schien auch nicht überrascht zu sein, dass er keine genaue Auskunft erhielt und zuckte mit den Achseln:
„Wie auch immer… Er ist öfter hier… Ich sah ihn gestern nicht zum ersten Mal. Aber mir wäre nicht aufgefallen, dass er regelmäßig hier etwas trinkt.“
Mjor bedankte sich, nickte dem Wirt noch einmal zu und verließ dann die Schenke.
Draußen empfing ihn die frostige Kälte der Nacht. Die Sonne war bereits lange untergegangen und Mjor rieb sich die Arme. Hätte er doch nur einen Reisemantel mitgenommen. Die Kluft des Ordens war zwar praktisch, wenn man sich bewegen musste, aber nicht sonderlich warm im Bereich der Arme und Beine. Er eilte zurück zum Kloster, um dort vielleicht noch einige Stunden Schlaf zu finden, bevor ihn Yvos in den frühen Morgenstunden wieder wecken würde, doch am Tor empfing ihn bereits ein missmutig dreinblickender Othe und durchkreuzte seine Pläne:
„Mjor…“ begann er vorwurfsvoll und Mjor schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. Er hatte vollkommen vergessen, dass er Othe versprochen hatte, mit ihm zu trainieren!
„Ich -“ versuchte Mjor zu erklären, doch Othe unterbrach ihn gereizt:
„Ach, vergiss es.“ Er winkte ab. „Es gab natürlich wieder etwas Wichtigeres.“ Er rieb sich fröstelnd den gewaltigen, rechten Oberarm und wandte sich dann ab. Er stapfte mit ausladenden Schritten den geschlängelten Kiesweg ins Innere hinab, der dann nach einigen hundert Schritt den Hügel hinauf zum Hauptteil des Klosters führte. Mjor ärgerte sich über sich selbst. Das hätte er nicht vergessen dürfen. Othe war immer für ihn da und riskierte seinen eigenen Hals, wenn er Hilfe brauchte. Alles, was er im Gegenzug verlangte, war das zusätzliche Training, für das es so schwer war, einen Partner zu finden. Nun war es jedoch geschehen. Er hatte es vergessen. Mjor schalt sich, doch plötzlich kam ihm eine Idee:
„Hey, Othe!“ Othe brummte nur, blieb jedoch nicht stehen. Mjor eilte ihm hinterher und fuhr fort: „Lass uns jetzt trainieren!“ Der stämmige Grimbar hielt plötzlich inne und fuhr erstaunt auf der Stelle herum:
„Jetzt?“ rief er überrascht aus. „Weißt du, wie spät es ist?“ Mjors Blick fiel zum sternenlosen Nachthimmel. Er zuckte nur lässig mit den Achseln und erwiderte:
„Ach… warum nicht. Du willst trainieren. Dann lass uns loslegen.“ Mjor sprühte förmlich vor Energie und Tatendrang, obwohl er eigentlich von der harten Gartenarbeit erschöpft hätte sein müssen. Othe Zorn war plötzlich verschwunden und er begann zu grinsen. Gemeinsam änderten sie ihre Richtung und nahmen die rechte Abzweigung, die rechts vorbei am Hügel zu den Trainingsanlangen führte.
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„Aufstehen!“ bellte der Adept und ein Raunen ging durch den großen Schlafsaal „Die Meister erwarten euch bereits im Hof!“ Mjor blinzelte müde, während der Mann mit der Fackel durch die Reihen ging und ohne Lärm zu vermeiden alle Feuerschalen vor den Betten entzündete. Der Schlafsaal, den Mjor mit Othe und etwa zwanzig anderen Anwärtern teilte, war groß und nur durch eine Doppelflügeltür erreichbar. Die etwa zwanzig Betten reihten sich an beiden Seiten des länglichen Saals auf. Mjor grunzte müde, während er versuchte, nicht sofort wieder in den wohligen Schlaf zu fallen. Sie hatten gestern noch etwa zwei Stunden lang trainiert und waren erst kurz vor Sonnenaufgang in den Schlafsaal geschlichen. Vermutlich hatten sie weniger als eine Stunde geschlafen. Dieser Tag würde die Hölle werden.
Mjor drehte sich um und betrachtete Othe, der im Bett neben ihm schlief, während der übereifrige Adept immer noch die Schlafenden antreibend durch die Reihen schritt. Sein rothaariger Kumpan war immer noch nicht aufgewacht. Sein rechter Arm baumelte scheinbar leblos seitlich am Bett hinab und schleifte auf dem kalten Holzboden.
„Hey!“ rief Mjor mit kräftiger Stimme und mehrere Schlafende um ihn herum stöhnten leise. Othe regte sich nicht. Mjor beugte sich weit über die Bettkante und versetzte ihm kurzerhand einen Schlag mit der flachen Hand am Oberarm – dort, wo er ihn gestern mit einem besonders heftigen Stockhieb erwischt hatte. Er traf genau auf die grünliche Fläche, welche sich in breiten Flecken auf der gebräunten Haut des Zwerges ausgebreitet hatte.
Othe war sofort wach. Er sprang auf, jaulte und Mjor lachte schallend. Die jungen Anwärter, die bereits auf den Beinen waren und sich eifrig mit Eiswasser das Gesicht wuschen, fielen mit ein und ein Stöhnen ging durch die Reihen derjenigen, die noch älter waren, als Mjor oder Othe.
Othe saß nun kerzengerade im Bett und blickte gehetzt um sich, während er sich mit beiden Armen an den Bettkanten abstützte. Kräftige Adern traten an seinen gewaltigen Oberarmen hervor, während er versuchte, zu begreifen, was gerade geschehen war. Er betrachtete missmutig die lachende Meute von Jugendlichen, dann fiel sein Blick auf Mjor, der neben ihm saß und Tränen lachte.
„Mjor!“ rief er tadelnd aus und seine Augen blitzten auf.
„Nichts zu danken.“ Erwiderte Mjor und nickte, als hätte er ihm einen Gefallen getan, ihn auf diese Art zu wecken. Othe grinste nun kopfschüttelnd und wollte etwas erwidern, doch das kräftige Gähnen, welches ihn jäh überfiel, hinderte ihn daran. Menden, einer aus der Gruppe der jüngeren Adepten, rief nun über das allgemeine Gelächter hinweg:
„Was habt ihr denn gestern noch getrieben? Wart ihr bei Meister Beobar?“ Das Gelächter der übrigen verstärkte sich und Menden setzte noch einen drauf: „Hat er wieder einmal eines seiner berüchtigten Bockfässer angestochen?“ Othe knurrte nur, während Mjor sich hinter der Gruppe anstellte, um am großen Marmorbecken an die Reihe zu kommen. Er versetzte Menden, der nun direkt vor ihm stand, einen gutgemeinten Klaps auf den Hinterkopf. Menden fuhr erschrocken herum und blickte nun in Mjors müde lächelndes Gesicht:
„Wenn du es genau wissen willst: Wir haben trainiert. Vielleicht solltest du nächste Mal mit uns kommen, Mend.“ Er beäugte, so dass alle anderen es deutlich sehen konnte, die dürren Arme des schlaksigen Jungspunds und hob übertrieben eine Braue. Die übrigen Grimbar hinter ihm lachten nun erneut und zahlreiche kräftige Schulterklopfer ließen den nun verdrießlich dreinblickenden Adepten mehrfach zusammenzucken. Othe tauchte nun hinter Mjor auf und löste ihn als den letzten in der Schlange ab. Da etwa einen Kopf größer war, konnte er sich mit beiden Unterarmen auf dessen Schultern abstützen und Menden triumphierend über Mjor hinweg anstarren. Menden hatte sich schnell wieder gefasst und holte zum Konter aus:
„Entschuldigt.“ Er deutete eine respektvolle Verbeugung an. „Es war nicht meine Absicht, den alten Herren etwas zu unterstellen.“ Othes Augen blitzten auf, während Mjor nach vorne schnellte:
„Ich geb‘ dir gleich einen alten Herrn!“ Menden war jedoch schneller. Bevor Mjor ihn packen konnte, bildete sich schon eine Lücke in der Gruppe junger Adepten und Menden sprang lachend hindurch. Sofort schlossen sich die Reihen wieder und allgemeines Gelächter brach aus.
Es waren die üblichen Scherze und gutgemeinten Raufereien unter Freunden. Hier in Tarlens Haus schweißten nicht die Klassen zusammen – Dafür sorgten einige Meister mit bestem Wissen und Gewissen. Was ihnen jedoch niemand nehmen konnte, war die verschworene Gemeinschaft, die sich in den Schlafsälen bildete. Hier waren die jüngsten im Alter von Menden – kaum mehr als Jugendliche – Dann natürlich Mjor und Othe, welche in Grimbarkreisen schon als junge Erwachsene galten und schließlich einige ältere Grimbar in allen Altersgruppen. Sie waren wie eine große Familie. Man neckte sich, zankte und raufte manchmal schon etwas heftiger, doch am nächsten Tag war alles wieder beim Alten.
„So, jetzt ist aber Schluss.“ Ohms brüchige Stimme hallte durch den Schlafsaal und lies sie alle herumfahren. Wie immer war der älteste Grimbar in ihrem Schlafsaal als letzter aufgewacht, doch sofort im nächsten Moment stand er und war hellwach. Er strich die wenigen zerzausten Strähnen seines grauen Haars, die ihm noch geblieben waren glatt und schritt gelassen zu dem lachenden Pulk, der sich vor dem Waschbecken gebildet hatte. „Geht hier jetzt nochmal was voran?“ zeterte er und schob sich genau zwischen Mjor und Othe hindurch. Sie machten ihm ohne zu zögern Platz. Die jungen Grimbar rollten indes genervt mit den Augen und einige flüsterten:
„Jetzt ist der Spaß vorbei.“ und „Jetzt gibt’s Ärger…“
„Wer bei Tarlen braucht denn da so lange!“ fuhr Ohm fort zu wettern und teilte kurzerhand den Pulk der Jugendlichen mit seinen Pranken. Er war erstaunlich kräftig für sein Alter und doch hätte er sie niemals alle zur Seite schieben können, wenn sie nicht von selbst etwas nachgegeben hätten. Sie stoben widerwillig auseinander und murrten. Ohm schnaubte, als er das allgemeine Murren um sich herum vernahm und bellte:
„Ich werde nicht zulassen, dass wir schon wieder die Letzten sind! Los. Zack, Zack! Urbal, Menden, dann Vrotan. Beeilt euch!“ Er schleuste die Jugendlichen einen nach dem anderen an der Waschschüssel vorbei und packte jene, die trödelten kurzerhand am Schopf und zog sie schwungvoll zur Seite, um dem nächsten in der Reihe platzzumachen. Dass er dabei von den Wasserspritzern der sich schüttelnden Köpfe vollkommen durchnässt wurde kümmerte ihn nicht im Geringsten. Die Grimbar ließen sich Alles gefallen und wehrten sich nicht. Ohm war wie der Vater ihrer kleinen Gruppe, der alle zusammenhielt. Wäre er nicht da, würde ihr Schlafsaal jeden Vormittag zu spät kommen und eine saftige Strafe der versammelten Meister empfangen.
Plötzlich kam Bewegung in die Reihe. Schon bald waren Mjor und Othe als die Letzten dran. Ohm nickte ihnen zu und Wassertropfen rannen an seinem Gewand herunter, während sein Blick eiserne Strenge ausstrahlte. Er war in gewissem Maße respekteinflößender, als so mancher Paladin, obwohl er seine Averon noch nicht durchschritten hatte und seine Erleuchtung auf sich warten ließ. Ohm hieß eigentlich gar nicht Ohm. Sein richtiger Name war Brakk, doch da er sie alle wie ein Großvater seine Enkel behandelte, hatte sich hier im Schlafsaal der Spitzname Ohm durchgesetzt. Brakk murrte zwar ab und an, doch alles in allem hatte er den Namen akzeptiert. Er war im Grunde genommen viel zu ruhig und in sich gekehrt, um sich an solchen Nichtigkeiten zu stören. Er war stets für einen guten Rat zu haben, doch wenn es um etwas Wichtiges ging, dann konnte er schon einmal richtig ungemütlich werden.
Ohm wandte sich nun ab, während Othe und Mjor sich wuschen und widmete sich wieder den Jüngeren, die in seinen Augen seiner Aufsicht bedurften. Er feuerte sie unerbittlich an und trieb ihnen die Scherze und Zänkereien aus, die sie immer wieder aufhielten.
Nach fünf weiteren Minuten, waren sie dann soweit. Die versammelte Gruppe verließ, geführt von Ohm, Othe und Mjor den Schlafsaal und bog in geordneten Zweierreihen nach Westen ein. Gerade, als sie den nächsten Saal passierten, trudelten einige Nachzügler aus der Tür und schwätzten, während sie ihre Waffenröcke in zerknitterten Bündeln unter ihren Armen trugen.
Ohm schnaubte, während die Adepten an ihrer Gruppe vorbeiliefen und drehte sich noch einmal zu seinen Schützlingen um:
„Steck‘ dein Hemd in die Hose, Urbal! Menden, der Gürtel!“ Er schüttelte den Kopf, während Urbal seiner Anweisung Folge leistete und Menden hastig seinen Gürtel anlegte und somit den Waffenrock fixierte.
„Kinder…“ murmelte Ohm und sowohl Mjor, als auch Othe mussten lachen. Sie verstummten jedoch sofort, als Ohms eiserner Blick sie beide traf: „Ihr könntet ruhig einmal helfen, anstatt sie noch anzustacheln. Wir sollten uns von diesem disziplinlosen Haufen absetzen.“ Er deutete auf den Exerzierplatz, der vor ihnen auftauchte. Es war der große, quadratische Platz im Westteil des Klosters kurz neben den Schlafsälen, auf dem sie sich jeden Morgen versammelten, meditierten und sich anschließend in die Klassen der jeweiligen Meister aufteilten. Auf dem Platz waren ohne erkennbare Ordnung Adepten verteilt, welche eher einer chaotischen Menge auf dem Marktplatz glichen, als religiösen Anwärtern eines renommierten Paladinordens.
Die versammelten Paladine warteten bereits ungeduldig auf den breiten Treppenstufen, hinter denen sich der obere Teil des Platzes auftat. Eine gewaltige, etwa zehn Schritt hohe Marmorstatue Tarlens ruhte dort inmitten des runden Platzes auf ihrem quadratischen Sockel. Sie war gut gepflegt und glänzte im roten Licht der Morgensonne. Die Statue zu reinigen war die beliebteste Strafe der Meister und jeder Einzelne der Adepten im gesamten Kloster hatte wohl schon einmal mehrere Stunden damit zugebracht, das lästige Moos aus den Ritzen der aufwendig gearbeiteten Skulptur zu kratzen. Tarlen strahlte unendliche Würde aus, während er sich auf Mandar, seinen großen, Runenverzierten Kriegshammer stützte. Ein Schauer lief über Mjors Rücken, während er den Gott betrachtete, der schützend auf all seine Schüler und Paladine herabblickte.
Ihre Gruppe betrat den Platz und einige Meister hoben den Kopf. Manche nickten anerkennend, während Ohm sie wortlos anwies, sich wie jeden Tag in einem Block von vier auf fünf Mann aufzustellen und still zu sein. In dieser Position warteten sie schließlich noch einige Minuten, bis auch die letzten Nachzügler unter den streng richtenden Blicken der Meister auf dem Platz eintrafen.
Als alle anwesend waren, löste sich Erzpaladin Urongaard aus den Reihen und nahm seinen Platz oben vor der Statue ein. Mjor runzelte die Stirn und einige Adepten beugten sich verstohlen zu ihren Nachbarn. Die Meister bildeten eine Gasse und seine beiden Gehilfen folgten ihm. Oben angekommen, stellten sie sich neben ihn. Der auf seiner linken Seite hob sein verziertes Schild in die Höhe, der andere hielt den massiven Kriegshammer vor seiner Brust und hatte offensichtlich Mühe, den schweren Hammer in dieser Position zu halten. Erzpaladin Urongaard trug seine traditionell mit Edelsteinen bestickte Weste, die silberne Tarlenskrone und die ausladende Gebetskette des Ordensführers, welche aus zahlreichen auf der Kette aufgereihten Runensteinen bestand. Zahlreiche Legenden rankten sich um die Kräfte dieses Artefaktes, welches sich seit über fünfhundert Jahren im Besitz des Tarlensordens befand. Manche behaupteten, es verlieh einem die Unsterblichkeit Tarlens, andere sagten, sie wehrte jeglichen magischen Angriff, der gegen den Träger geführt wurde, ab. Was sie genau bewirkte, wussten wahrscheinlich nur die obersten Mitglieder des Ordens und der heilige Anführer selbst.
Urongaard begann nun zu sprechen und seine sonore Stimme erfüllte den gesamten Platz. Sofort kehrte absolute Stille ein. Normalerweise führte einer der gewöhnlichen Meister die Morgenmeditation. Es kam so gut wie nie vor, dass Urongaard selbst sie leitete. Meistens war er noch nicht einmal hier:
„Meine gläubigen Brüder. Ein neuer Tag beginnt und Tarlen sieht wohlgesonnen auf uns hinab. Ich spürte es heute ganz deutlich. Es steht uns ein Averon bevor.“
Ein Raunen ging durch die versammelte Menge. Einige Meister blickten verstohlen zu Urongaard hinauf, der versonnen nickte. Das war also der Grund seiner Anwesenheit heute! Dies war in der Tat nichts Alltägliches. Wenn der Erzpaladin den Averon im Vorfeld spürte, stand etwas Außergewöhnliches bevor. „Eine Welle des Glaubens ließ mich im Schlaf aufschrecken und durchfuhr mich so klar, wie eine jähe Erfrischung im Eiswasser eines kühlen Bergsees.“ Adepten begannen nun aufgeregt zu tuscheln, doch Urongaard fuhr unbeirrt fort: „Ich genoss die Kraft Tarlens und spazierte seither in den Gärten, während die Kraft des Herzens mich erwärmte. Ich war so selig, wie schon lange nicht mehr. Die Vorbereitungen für den Averon werden unverzüglich eingeleitet. Wer auch immer diese Aufmerksamkeit Tarlens verdient hat -“ Sein Blick schweifte über all seine gläubigen Schafe. „wird einen besonderen Platz in unseren Reihen einnehmen – So viel ist sicher.“ Nun war die Ruhe in den Reihen der Adepten endgültig gebrochen. Es wurde eifrig getuschelt und spekuliert, wer derjenige war, der so viel Aufmerksamkeit Tarlens verdiente. Stimmen wurden auch in den Reihen ihres Schlafsaals laut. Nicht einmal Ohms strenger Blick konnte nun den Jungen Einhalt gebieten, die den Traum ihrer Kindheit plötzlich so greifbar vor sich fanden.
Auch Othe hatte sich nun zu Mjor gebeugt und flüsterte ihm ins Ohr:
„Wer es wohl wird?“ Mjor zuckte mit den Achseln.
„Ich weiß nicht.“ Setzte er an und spekulierte bissig: „Vielleicht Rensen…“
„Ja, das sähe Yvos sicher gerne.“ Othe klopfte Mjor kumpelhaft auf die Schulter und beruhigte ihn ein wenig:
„Ich denke nicht, dass Tarlen so blind ist, wie Yvos, Mjor.“ Mjor schnaubte:
„Ich bin fest davon überzeugt. Aber wer weiß… Für mich ist Yvos ebenso kein wahrhaftes Abbild Tarlens.“ Othe runzelte die Stirn und sah in Mjors Worten offenbar eine Kritik an Tarlen selbst, die er vielleicht gar nicht so gemeint hatte. Er wollte gerade protestieren, als die kräftige Stimme Xerdeshs den plötzlich entstandenen Jahrmarktslärm durchschnitt:
„RUHE!“ bellte der Meister und alle Köpfe fuhren sofort zu ihm herum. „Die Neuigkeiten sind in der Tat erfreulich -“ erklärte er nun mit weniger strenger Stimme. „- Doch wir werden uns nun wie jeden Morgen der Meditation widmen. Es ist eine gute Prüfung eures Glaubens. Drängt die Neuigkeiten aus eurem Geist und widmet euch ganz der Leere. Wer dies schafft, kann sich einen Schritt näher am Averon wissen.“ Diese Worte waren in der Tat motivierend. Xerdesh wusste genau, wie er die jungen Adepten anpacken musste. Sofort schlossen die meisten ihre Augen und setzten sich auf den kahlen Steinboden. Nach und nach folgten alle und auch die Meister setzten sich. Urongaard presste währenddessen die Handflächen aufeinander und betrachtete die meditierende Schar mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen.