5
Anders trat auf die Straße und blickte zum Himmel. Er war wolkenlos und von dem satten Blau, welches einen wunderschönen Tag ankündigte. Die Straße um ihn herum war nahezu leer. Das Gildenhaus der Yllindroen Talar lag abseits in Midstadt, in einer kleinen Nebenstraße des großen Gildenwegs. Dort gab es über fünfzig Gildenhäuser zu beiden Seiten der großen Straße – Vielleicht waren es aber auch mehr. Anders hatte sich nie die Mühe gemacht, sie alle zu zählen.
Er trat die gepflegten Marmortreppen hinab auf die gepflasterte Straße und wandte sich noch einmal um:
Die beiden Wachleute am Eingang waren in ein lockeres Gespräch vertieft und ihre Lanzen lehnten beide etwas abseits an der Hauswand. Das große Gildenschild schaukelte direkt über der offenen Tür im leichten Wind und zeigte erneut das Wahrzeichen der Gilde: Den majestätischen Adler auf einem schwarzen Ast. Anders arbeitete seit etwa drei Jahren für die Yllindroen Talar, doch er wusste kaum etwas über sie. Es war eine Vereinigung aus reichen Oberstädter Elfen und Iffrin, die für die Sicherheit im Zentrum der Stadt einiges an Münzen auf den Tisch legten. Wann immer ein Angriff vor den nördlichen Toren die Bürger nahe der großen Stadtmauer in Angst und Schrecken versetzte, zahlte die Gilde bare Münze für das Midstädter Büro, welches dann Aufträge verteilte, um die verwüstete Gegend zu sichern. Fjorskar war sein Ansprechpartner und der Anführer der Midstädter Abteilung der Gilde. Er war ein mächtiger und gebildeter Mann, so wie die meisten der hohen Tiere in dieser Vereinigung. Natürlich war Anders kein Mitglied. Soweit würde es nie kommen. Sie würden niemals einen Landstreicher wie ihn in die Gilde der gebildeten Reichen aufnehmen. Er ging zwar in ihren Hallen ein und aus, er trank ihren Schnaps und wurde von ihnen bezahlt, doch einer der Ihren würde er nie werden. Anders schüttelte gedankenverloren den Kopf, fasste sich an die bronzene Brosche, die seinen Reisemantel zusammenhielt und machte sich auf den Weg.
Er hatte einen kniffligen Auftrag vor sich, welcher einiges an Geschick voraussetzte. Eigentlich gab er nichts um diese Art der Arbeit, doch Fjorskar würde ihn irgendwann fallen lassen, wenn er nur noch die Aufträge vor den Toren übernehmen würde, die er eigentlich wollte. Er konnte zwar ohne Problem woanders Geld verdienen, doch diese Arbeit bedeutete ihm wirklich etwas.
Fjorskar würde das nie verstehen.
Er sah nur einen Söldner wie tausend andere und versuchte ihn mit Geld zu locken. Anders brauchte kein Geld. Er verdiente in einem Monat mehr, als er auf dem Hof in einem ganzen Jahr gemacht hätte und hier in Midstadt zählte er damit zu den armen Schluckern. Man merkte erst, wie ungerecht die Welt eigentlich war, wenn man einmal eine Weile innerhalb der riesigen Mauern spazierte und verstand, welches Glück diejenigen eigentlich hatten, die sich nicht alltäglich Sorgen machen mussten – nicht um das Leben ihrer Familie bangen mussten. Pfeifenkraut – pah! Als ob es keine größeren Probleme gäbe.
Anders bog in den Gildenweg ein und wurde sofort verschluckt von der Menge umhereilender Bürger in den verschiedensten Gildengewändern. In seinem verdreckten Reisemantel und seiner schweren Bewaffnung setzte er sich dabei deutlich von dem schillernden Regenbogen aus gepflegten Städtern ab. Manche machten einen leichten Bogen um ihn und einige wenige rümpften die Nase, als sie an ihm vorbeieilten. Er wusste, dass er streng roch, doch er hatte am gestrigen Abend nicht mehr genug Geld gehabt, um sich ein Bad in dem Gasthaus zu leisten, in dem er derzeit wohnte. Aber das konnte nun warten. Er würde zuerst einige Dinge in Erfahrung bringen und dann in das Badehaus gehen, um über die Informationen nachzudenken.
Er marschierte zielstrebig zum Markt und kaufte an dem Süßigkeitenstand eine Hand voll Brombeerenbonbons. Der Händler kannte ihn und begrüßte ihn freundlich. Anders bezahlte drei, statt der übrigen vier Heller und nickte dankbar.
Ein prüfender Griff in den Beutel – Noch zehn Heller übrig.
Dann bog er ohne sich zu beeilen in eine Seitengasse ab und schlenderte seinen üblichen Weg entlang. Einige hundert Schritt später nahm er eine weitere Abzweigung und fand sich in dem idyllischen Gässchen wieder, welches sein Ziel war. Kleine Vorgärten reihten sich vor den Zweiparteienhäusern aneinander. Jeweils zwei Vorgärten waren dabei immer gemeinsam umzäunt und teilten sich einen schmalen Kiesweg, der zu den beiden Eingangstüren führte. Es war eine schöne Wohngegend. Ein junger Elf saß in seinem Garten und las in einem zerschlissenen Buch. Er sah nicht auf. Gegenüber pflegte ein älteres Gnomenpärchen ihren Garten. Sie beschnitten gemeinsam ein sorgsam aufgereihtes Beet von dunkelroten Rosen. Anders schlenderte an den beiden Gärten vorbei und öffnete dann das nächste Gartentor zu seiner linken.
Die alte Rosa saß wie immer auf der Bank neben ihrem Hauseingang und schien zu schlafen. Der Kopf der Zwergin war an die Hauswand gelehnt und ihre Augen geschlossen. Sie wirkte so friedlich. Ein besticktes Kissen stützte sie dabei und polsterte die harte Backsteinwand. Sie hatte langes, graues Haar, welches mit mehreren Haarnadeln zurückgesteckt war und tiefe Falten im Gesicht, die von ihrem Alter zeugten. Sie war nun schon seit über einem Jahr allein und pflegte ihren Garten und das Haus fast ohne Hilfe.
„Morgen.“ Grüßte Anders. Er wusste, dass sie nicht wirklich schlief. Rosa öffnete blinzelnd die Augen und lächelte dann:
„Morgen.“ Dann huschte ihr Blick zum Himmel und sie kicherte: „Ist doch schon fast Mittag, Anders.“ Anders trat nun einen Schritt auf sie zu und deutete fragend auf das freie Ende der kleinen Bank. Rosa nickte und Anders setzte sich neben sie.
„Ist er schon zu Hause?“ fragte er und sah sie hoffnungsvoll an. Rosa schüttelte jedoch den Kopf:
„Nein. Er kommt derzeit immer etwas später. Wie lange warst du jetzt schon nichtmehr hier?“ Anders überlegte kurz.
„Fast einen Monat?“ schätzte er und zuckte dann mit den Achseln. „Hab nicht mitgezählt.“
„Du solltest sie öfter besuchen.“ Rügte sie ihn. Anders lächelte.
„Ich komme doch sowieso nur wegen dir.“ Rosa löste sich ächzend von der Hauswand und ihr Kissen rutschte nach unten. Anders fing es auf und legte es neben sich auf das Fenstersims. Sie musterte ihn plötzlich prüfend und schüttelte schwach den Kopf:
„Ach.“ Erwiderte sie nur und Anders dachte schon, das wäre bereits ihre Einschätzung gewesen, doch nach einigen Sekunden fuhr sie fort: „Du schmeichelst mir wie immer, aber das hilft dir auch nicht.“ Sie deutete auf seine Brust. „Du stinkst wie ein Schwein und getrunken hast du auch schon. Es ist doch erst Mittag. Du brauchst dringend ein Mädchen -“
Anders öffnete den Mund, doch Rosa kam ihm zuvor: „Und damit meine ich nicht mich!“ Sie lachte, wurde dann jedoch wieder ernst und schüttelte den Kopf: „Ich wäre nichts für dich – wie oft sollen wir das noch durchgehen. Ich hab‘ viel zu viel Energie für dich!“ Sie hob beide Brauen und Anders musste lachen. Es passierte selten in diesen Tagen, doch dieser Ort hier war für ihn etwas Besonderes. Er lehnte sich versonnen gegen die Hauswand und beobachtete die Nachbarn, die immer noch ihr Beet pflegten. Rosa ließ ihn jedoch gar nicht erst zur Ruhe kommen, sondern klopfte ihm auf die Schulter:
„Und jetzt los. Geh‘ rein. Ren erwartet dich bereits. Er freut sich doch immer so, wenn du kommst.“ Anders lächelte wehmütig und verzog im nächsten Moment das Gesicht.
„Aber Tibetta…“ klagte er, doch Rosa schüttelte mit strenger Mine den Kopf:
„Ach…“ flüsterte sie. „Ignorier‘ sie einfach. Denk‘ an den Kleinen…“ Anders nickte. Sie hatte Recht. Er stand auf und wollte sich verabschieden, doch Rosa kam ihm erneut zuvor:
„Hast du etwas dabei?“ Anders nickte knapp und klopfte auf die Manteltasche, in denen er die eingewickelten Bonbons verstaut hatte. „Gut.“ Stellte sie knapp fest und deutete mit dem Kopf in Richtung der benachbarten Tür. Dann griff sie sich ihr Kissen, klemmte es unter und schloss erneut die Augen.
Anders ging wortlos an Rosas Eingangstür vorbei und klopfte bei den Nachbarn. Einige Sekunden passierte nichts, dann wurde die Tür schwungvoll nach Innen aufgezogen:
„Hallo.“ Begrüßte ihn Tibetta kühl. Das Lächeln, welches sie noch eine Sekunde zuvor aufgesetzt hatte, erstarb und wich dem üblich richtenden Blick, der einen Blitz vom Himmel wünschte, ihn in zwei Hälften zu spalten.
„Morgen.“ Grüßte Anders zurück und trat ein. Sie wich ihm und rümpfte offen die Nase. Sie würde ihm zweifellos ebenso wie Rosa ins Gesicht sagen, dass er wie ein Schwein stinke, doch wenn, dann würde sie es keinen Falls gut meinen. Aus dem hinteren Teil der Stube drang indessen ein überraschter, freudiger Ruf zu ihm heran:
„Anders!“ Anders Blick fuhr herum, während Ren mit ausgebreiteten Armen auf ihn zugelaufen kam. Er ging in die Knie und schloss den Jungen in die Arme. Ren schmiegte sich an seine stoppelige Wange. Seine Haut war weich und angenehm warm. Eine einzelne Träne begann, an seiner Wange hinabzulaufen, während sein Blick zu Stein gefror. Er wischte sie rasch weg und zwang sich ein Lächeln auf. Als Ren sich einige Sekunden später wieder von ihm löste und einen Schritt zurücktrat, musste er sich nichtmehr dazu zwingen.
„Hast du was mitgebracht?“ rief der kleine Junge aufgeregt. Anders zuckte mit den Achseln und tat so, als würde er ernsthaft überlegen. Ren blickte ihn traurig an, so wie ein junger Hundewelpe einen betrachtete, wenn man das Haus verließ.
Im nächsten Moment schnellte Anders Hand in die Tasche und zog eines der Bonbons heraus.
„Ha!“ rief er und Anders schnappte es sich kichernd. Er zog sich mit seiner Beute rasch in die Ecke des Raumes zurück und kniete sich neben die Kochzeile, wo er seinen Schatz auswickelte. Tibetta, die sich inzwischen an den Tisch neben der Tür gesetzt hatte, starrte ihn nun noch feindseliger an, als zuvor. Anders schluckte innerlich und setzte sich dann zu ihr. Nun hieß es warten.
„Wenn du sein Angebot annimmst, dann mach ich dein Leben zur Hölle.“ Flüsterte sie, so dass Ren sie nicht hören konnte.
Das kam ja schnell. Anders hatte noch ein ‚Hallo, ist das Wetter nicht schön?‘ erwartet oder ein ‚die Preise für Kohl sind diese Woche wieder unverschämt hoch!‘, doch warum sich mit Nichtigkeiten aufhalten. Er schüttelte sofort den Kopf und Tibettas Miene hellte sich zumindest ein wenig auf. Es war immer noch nicht die Art von Blick, welcher einen zum Mittagessen einlud, doch für ihre Verhältnisse war es über alle Maßen wohlwollend.
„Keine Sorge. Ich sag‘ es dir doch immer wieder. Ich würde das nie annehmen.“ Sie nickte zufrieden.
„Gut. Diese Familie hat schon genug für dich getan!“ Anders lehnte sich angespannt zurück und nickte. Er wusste nicht, was er darauf jetzt antworten sollte. Einen Streit würde er mit Tibetta garantiert nicht anfangen. Er war ja nicht vollkommen von Sinnen.
In diesem Moment öffnete sich die Tür und Anders atmete auf. Erik kam herein und sagte in den Raum hinein:
„Entschuldigt, ist etwas später geworden.“ Er schloss die Tür und sah dann zuerst Anders und dann seine Frau, die ihn nun vorwurfsvoll musterte. Anders hätte gerne gelacht, doch Tibetta hätte ihn dann wohl vor den Augen ihres Sohnes mit einem Küchenmesser enthauptet.
„Anders!“ rief Erik erfreut aus und kam auf ihn zu. Anders sprang auf und sie schlossen sich in die Arme. Der Halbling reichte ihm nur bis zum Bauchnabel, doch Anders ging, wie bei Ren auch etwas in die Knie. „Sag, wie ist es dir ergangen?“ fragte Erik und Ren tanzte nun, sein Bonbon lutschend, um seinen Vater herum. Anders zuckte mit den Achseln:
„Ach. Es geht schon.“ Erik blickte erneut zu seiner Frau, die immer noch kein Wort sagte und deutete dann auf die Tür.
„Komm, lass uns kurz spazieren gehen, bis das Essen fertig ist.“ Hastig verließen sie das Haus, während Tibetta den protestierenden Ren zurückhielt. Als sich die Tür schloss, atmeten sie beide auf.
„Tut mir leid, Anders.“ Murmelte Erik, doch Anders winkte ab:
„Ist schon in Ordnung. Ich verstehe, warum sie mich nicht mag. Es ist wegen Ren.“ Als er den Namen aussprach, sprang seine rechte Hand zu seiner Brosche und seine Kehle wurde für einen Moment trocken.
„Nein…“ wiegelte Erik ab, nur um sofort einzulenken: „Ja… vermutlich. Ich glaube, der Name hat ihr nie gefallen. Aber ich wollte es so. Ich bin schließlich der Mann im Haus!“ Ein verstohlener Blick schnellte zurück zur Haustür und Anders gluckste:
„Sag‘ das beim Essen nochmal. Das will ich sehen.“ Erik seufzte gespielt. Er war etwas in die Jahre gekommen. Sein Haar war inzwischen weiß wie Schnee und ähnlich wie bei seiner Nachbarin hatten sich tiefe Falten auf seiner Stirn gebildet. Es war ein Wunder, dass er vor fünf Jahren überhaupt noch ein Kind bekommen hatte, doch Tibetta war ja noch etwas jünger als er. Die Heiler hatten ihre Chancen als sehr schlecht eingeschätzt und doch hatte es letzten Endes noch geklappt. Seine Frau hatte sich schon immer ein Kind und das Leben in Midstadt gewünscht und als ihr Wunsch nach so vielen Jahren endlich in Erfüllung gegangen war, passierte es. Anders‘ Welt stürzte ein und sein einziger Freund rettete ihn mit einer Geste, die ihn damals wie heute überwältigte.
„Es war…“ begann Anders, doch er konnte wie immer nicht die richtigen Worte finden. „Du hättest nichts Schöneres tun können.“ Erik hob jedoch wie immer die Hand:
„Nein, nein. Es war -“ Er suchte ebenfalls für einen Augenblick nach dem richtigen Wort, doch Anders unterbrach ihn:
„Tapfer.“ Er grinste. „Du hast dich dem Drachen entgegengestellt.“
Sie waren inzwischen am Gartentor angekommen und standen nun zu beiden Seiten der Tür, mit je einer Hand auf den Zaun gestützt im Rasen. Erik nickte versonnen und erneut schnellten seine Pupillen zum Haus zurück. Für einige Augenblicke sagte keiner der beiden etwas, während sie die pralle Mittagssonne genossen.
Schließlich war es Anders, der das Schweigen durchbrach.
„Sie gleichen sich in so vielen Dingen.“ Sagte er mit ernster Stimme und Erik nickte. Dann gluckste er:
„Bis auf die Höhe.“
„Nein.“ Widersprach Anders. „Ren war mit fünf auch nicht viel Größer…“ Er tappte seinem Freund auf die Schulter und lächelte:
„Ihr hört nur irgendwann auf zu wachsen.“ Erik zuckte mit den Achseln und stimmte zu. Er hatte nie irgendwelche Komplexe wegen seiner Größe gezeigt. Er sah den Umstand als gegeben und akzeptierte ihn. Anders hatte es auch nie verstanden, warum Menschen Halblinge oder Gnome wegen ihrer Größe diskriminierten. Bei Zwergen war das seltsamerweise kein Problem. Sowohl die impulsiven Grimbar, als auch die gebildeten Iffrin wurden aufgrund vieler anderer Dinge mit seltsamen Blicken gemustert, doch die Größe schien oft kein Thema zu sein. Vielleicht lag es daran, dass bei den Halblingen und Gnomen eine gewisse Menschenähnlichkeit zu erkennen war und die Zwerge in ihrer Statur so anders waren.
„Und wie erging es dir?“ hakte Erik plötzlich nach und durchbrach seine Gedanken. Anders schwieg und Erik nickte versonnen. „Wie immer also.“ Sein Blick huschte an Anders Gestalt hinab und blieb an der notdürftig geflickten Wunde an seinem linken Arm hängen. Anders hatte sie im Laufe des Gefechts mit einem einigermaßen sauberen Lumpen umwickelt und diesen dann einige Stunden später entfernt, um dem Schnitt etwas Luft zu geben. Erik verzog das Gesicht bei dem Anblick der leicht gräulichen Stelle und schüttelte fassungslos den Kopf:
„Was ist das denn?“ Anders folgte seinem Blick und zuckte mit den Achseln.
„Ein Schnitt. Ich war gestern unvorsichtig.“ Der Halbling musterte ihn nun missbilligend:
„Das sieht nicht gut aus. Hast du es von einem Heiler untersuchen lassen?“ Anders schürzte die Lippen und löste sich von dem Geländer:
„Nein… Ist halb so wild. Es wird schon verheilen.“ Einen Heiler zu bezahlen war teuer. Die meisten verlangten für die Behandlung einer kleinen Verletzung acht Kupferlinge und dies waren noch die Dilettanten des Berufsstandes. Erfahrene Heiler, die ein Studium in Arkanost vorzuweisen hatten, konnten schon um die ein bis zwei Silbertaler verlangen. So viel Geld war Anders nicht bereit, dafür auszugeben.
Erik blickte ihn nun skeptisch an, woraufhin Anders ein weiteres Mal abwiegelte:
„Es ist in Ordnung.“
„Ich kann mit dir zum Heiler gehen… Nach dem Essen.“ Schlug sein Freund vor. „Wir haben einen sehr begabten jungen Meister in der Nachbarstraße… Er hat erst vor kurzem an der hohen Universität mit Auszeichnung bestanden.“ Besorgnis lag in seiner Stimme. Anders würde es nicht zulassen, dass Erik so viel Geld für ihn ausgeben würde. Lieber würde er an Wundbrand sterben, als zu akzeptieren, dass ein Freund für seine Taten zahlen müsste. Er schüttelte vehement den Kopf und lehnte ab:
„Nein. Das kann ich nicht annehmen.“
„Du weißt genau, dass ich derzeit genug verdiene…“ stellte Erik in den Raum, doch Anders ließ ihn nicht weiter argumentieren:
„Nein. Selbst, wenn… Ren wird das Geld dringender brauchen, als ich. Spare es für ihn, oder kauf‘ deiner Frau was Schönes… Ich werde mich schon durchschlagen.“ Erik nickte, lächelte jedoch nicht. Er musterte Anders immer noch mit besorgt und schien ihn mit Blicken durchleuchten zu wollen. Anders war unwohl dabei, doch er sagte nichts. Er ließ sich nicht gerne bemuttern. Erik jedoch war der Einzige, dem er dies durchgehen ließ.
„Dann gehen wir zumindest ins Badehaus?“ hakte Erik hoffnungsvoll nach. Anders nickte:
„Natürlich. Wie immer.“
Plötzlich öffnete sich die Tür hinter ihnen und Tibetta streckte den Kopf heraus. Sie rief sie beide zum Essen und knallte dann die Tür wieder zu.
„Sie scheint nicht sonderlich gut drauf zu sein…“ stellte Anders fest und Erik lächelte wieder.
„Ach… Es ist nicht immer leicht.“ Gab er wage zurück, doch Anders verstand.
Wortlos gingen sie Seite an Seite ins Haus.
Beim Essen herrschte eine gemischte Stimmung in der kleinen Stube. Tibetta löffelte schweigsam ihren Eintopf und brütete vor sich hin, während Anders und Erik sich angeregt unterhielten. Ren lauschte ihnen beiden, doch seine Aufmerksamkeit galt hauptsächlich dem kleinen Bonbon, welches Anders hinter seinen Teller gelegt hatte. Er hätte es am liebsten sofort verschlungen, doch Tibetta hatte ihm verboten, es zu essen, bevor sein Teller nicht leer war.
„Fährst du noch häufig raus?“ fragte Anders, hob interessiert den Kopf und legte seinen Löffel für einen Moment in der getöpferten Schale ab. Die Frage galt Erik, der runterschluckte, um zu antworten, doch Tibetta kam ihm zuvor:
„Keine Arbeit beim Essen!“ fauchte sie und bedachte sie die beiden Männer mit einem zornigen Blick. „Das ist nichts für den Kleinen.“ Sie vermied es stets, Ren beim Namen zu nennen – zumindest, wenn Anders hier zu Besuch war. Er war sich nicht sicher, ob es Erik auch auffiel. Eigentlich musste er… Es war fast schon zu offensichtlich. Der Händler ließ sich zumindest nichts anmerken.
„Es wird Ren schon nicht schaden, etwas über die Welt da draußen zu erfahren.“ Versuchte Erik sie zu beschwichtigen und tätschelte dem Jungen den Kopf. Ren wand sich schnell unter der flachen Hand seines Vaters hinweg und widmete seinen Fokus erneut der Süßigkeit. Er schien von der Diskussion sowieso nichts mitzubekommen. Erik gluckste. Ein kühler Blick seiner Frau ließ ihn jedoch widerstrebend nicken. „Na gut. Dann keine Arbeit.“ Anders hätte gerne laut gelacht, doch er erinnerte sich zurück, wie froh er gewesen war, dass sich Erik bei ihm und seiner Frau immer zurückgehalten hatte. Sie hatten sich geliebt, aber wenn Besuch die Hütte verlassen hatte, hatte das immerwährende Lächeln seiner Ella schnell in Zorn umschlagen können. Meistens hatte er in seiner männlichen Unachtsamkeit etwas gesagt oder getan, dessen er sich offensichtlich nicht bewusst gewesen war. Ella hatte es dann anscheinend als ihre Pflicht gesehen, ihn darauf lautstark aufmerksam zu machen. Wehmütig dachte er zurück, wie oft sie sich gestritten hatten – wie oft er einen Groll gegen sie gehegt hatte und sich seiner Feldarbeit gewidmet hatte, um ein wenig Freiheit zu haben. Er hatte seine Zeit nicht genutzt. Das war seine persönliche Strafe der Götter.
„Willst du nicht ein paar Tage bei uns übernachten, Anders?“ fragte Erik unvermittelt und holte ihn zurück in die Wirklichkeit. Es war die Frage, die jedes Mal in den Raum gestellt wurde, wenn er zu Besuch war und die oft schon in einen ausgewachsenen Streit zwischen Erik und seiner Frau ausgeartet hatte. Anders lehnte immer ab und Tibetta wurde mit jedem Mal ungehaltener, doch Erik ließ sich davon anscheinend nicht beirren.
Anders tauschte einen verschwörerischen Blick mit Tibetta aus, die ihn mit zu Schlitzen verengten Augen anstarrte. Seufzend löste er den Blick von ihr und blickte seinem Freund in die Augen.
„Nein, Erik. Dank dir für das Angebot, aber ich komme klar.“ Tibetta nickte zufrieden und ihre verkrampften Gesichtszüge entspannten sich wieder ein wenig. Da sie sich nicht sonderlich bemüht hatte, es zu verbergen, hatte Erik es ebenfalls bemerkt und runzelte nun verärgert die Stirn. Anders richtete sich angespannt auf, während die Stimmung zu kippen drohte. Plötzlich verschwand jedoch Eriks Zorn und wich einer nichtssagenden Lehre. Er nickte gemächlich und widmete sich, ohne ein weiteres Wort zu verlieren wieder seiner Schale.
Nach dem Dämpfer verlief das Gespräch zwischen ihnen eher stockend und sie tauschten kaum mehr als hohle, nichtssagende Floskeln aus. Sie alle widmeten ihre Aufmerksamkeit wieder dem Essen und nachdem sie fertig waren, half Ren Tibetta fleißig beim Abdecken. Anders verabschiedete sich von dem Kleinen und steckte ihm ein weiteres Bonbon zu. Dann verließ er zusammen mit Erik das Haus und sie machten sich auf in Richtung Badehaus.